Pamuk, Orhan
wert, gefoltert zu werden! Wir, die Illustratoren,
verdienen uns das Paradies nur dann, wenn wir zuerst unserem Talent und unserer
Kunst als Untertanen dienen, und nicht dem Padischah, der uns Arbeit gibt. Nun
möchte ich dieses Buch für mich allein betrachten.«
Seine zuletzt gesprochenen Worte
waren so gramerfüllt gewesen wie die eines müden, für eine Niederlage
verantwortlichen Paschas, der vor dem Enthaupten seinen letzten Wunsch äußert.
Er schlug das Buch auf, das ihm der Zwerg bereitgelegt hatte, und ging daran,
ihm mit tadelnder Stimme Befehle zu geben, damit er diese oder jene gewünschte
Seite finde. Durch diesen vorwurfsvollen Ton war er sofort wieder zu jenem
Ersten Illustrator geworden, wie ihn die ganze Buchmalerwerkstatt kannte.
Ich entfernte mich, fand zwischen
Schränken, perlenbestickten Kissen, Gewehren mit rostigem Lauf und
juwelenbestücktem Kolben einen Winkel und beobachtete Meister Osman von
weitem. Während ich ihm zuhörte, wurde der schon an mir nagende Verdacht für
mich zur Gewißheit: Jetzt kam es mir durchaus verständlich vor, daß er hinter
den Morden stecken könne, um damit die Vollendung des Buchs für unseren
Padischah, diese fränkische Nachahmung, zu verhindern, und ich fühlte mich
plötzlich schuldig, weil ich ihn vorher so bewundert hatte. Andererseits
fühlte ich auch ungewollt eine tiefe Verehrung für diesen großen Altmeister,
der sich so ganz und gar den vor ihm liegenden Bildern widmete und ein jedes
Bild, ob er nun blind oder halbblind war, mit der faltenreichen Haut seines
greisen Angesichts aufzunehmen schien. Als mir schließlich klar wurde, daß er,
um die alte Ordnung und Methode der Buchmalerwerkstatt zu bewahren, um das Buch
des Oheims loszuwerden und wieder der alleinige Favorit des Sultans zu sein,
nicht nur irgendeinen der Buchmalermeister, sondern sehr leicht auch mich den
Folterern des Obersten der Gartengarde ausliefern könnte, suchte ich mit all
der Kraft meiner Phantasie nach einem Weg, das Band der Liebe, das mich seit
zwei Tagen an ihn fesselte, wieder zu lösen.
Viel Zeit war vergangen, mein
Verstand reichlich verwirrt. Lange und aufs Geratewohl schaute ich mir die
Bildseiten irgendwelcher Bände an, die ich aus den Truhen hervorholte, alles
nur, um die Teufel in meinem Innern zu besänftigen und die Dämonen der Unentschlossenheit
abzulenken.
Wie viele Leute, Männer und Frauen,
stecken den Finger in den Mund! Diese Geste ist während der letzten zweihundert
Jahre in allen Werkstätten von Samarkand bis Bagdad als Ausdruck des Erstaunens
verwendet worden: Als der von seinen Feinden bedrängte Held Keyhüsrev mit der
Hilfe Allahs und seines schwarzen Pferdes die Strömung des Oxos heil
überwindet, stecken der nichtswürdige Fährmann und sein Ruderer, welche ihm die
Überfahrt verweigerten, vor Staunen den Finger in den Mund. Während Şirin
im See badet – dessen Silberglanz durch die Jahre verdunkelt wurde und Hüsrev
zum erstenmal ihre Schönheit, ihre mondhell schimmernde Haut erblickt, hält er
verwundert den Finger im Mund. Noch länger und eingehender aber betrachtete ich
die Finger in den Mündern der schönen Haremsfrauen, die hinter halboffenen Palasttüren,
in den unerreichbaren Fenstern der Festungstürme oder hinter Vorhängen zu sehen
waren: Als Tejav vom Heer der Iraner besiegt wird, seine Krone verliert und von
der Kampfstätte flieht, beobachtet ihn seine wunderschöne Favoritin Espinuy
kummervoll und entsetzt mit dem Finger im Mund aus dem Fenster des Harems, und
ihre Augen flehen: »Überlasse mich nicht dem Feind!« Während man Yusuf wegen
der Anklage der Züleyka, er habe ihr Gewalt angetan, in den Kerker wirft,
steckt sie, die Verleumderin, weniger verwirrt als teuflisch und lüstern den
Finger in den hübschen Mund. Zwei Liebende wie aus den Versen eines Gasels, die
so glücklich wie schwermütig in einem paradiesgleichen Garten von der Macht
der Liebe und des Weines überwältigt sind, werden von einer böswilligen Hofdame
mit dem Finger im roten Mund weniger staunend als eifersüchtig beobachtet.
Obwohl diese Geste als Modell in die
Musterhefte aller Illustratoren wie auch in ihr Gedächtnis eingezeichnet war,
wanderte der lange Finger der schönen Frauen jedesmal auf andere zierliche
Weise in ihren Mund.
Wieviel Trost hatte mir das
Anschauen der Bilder gebracht? Als die Dämmerung begann, ging ich zu Meister
Osman und sprach ihn an.
»Verehrter Meister, Efendi, mit
Eurer Erlaubnis verlasse ich die
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