Pamuk, Orhan
bleiben.
»Komm schon, du wirst da draußen
Hunde, Pferde und Bäume sehen, sie nachahmen und uns damit zum Lachen bringen.
Was willst du allein zu Hause anfangen?« fragte meine selige Mutter.
»Ich werde deine Kleider anziehen
und eine Frau sein, liebe Mutter«, konnte ich nicht sagen, so blieb mir nur
eine Erklärung: »Ich habe Bauchweh!«
»Sei kein Trottel«, meinte mein
Vater, »komm, laß uns ringen!«
Jetzt werde ich euch, ihr Brüder
Illustratoren und Kalligraphen, meine Gefühle schildern, nachdem sie
fortgegangen waren und ich Stück für Stück das Unterzeug und die Kleider meiner
seligen Mutter und meiner Tante anzog, werde euch das Geheimnis, eine Frau zu
sein, mitteilen, das ich an jenem Tag erlernte. Eins kann ich allem voran
sagen: Im Gegensatz zu dem, was wir oft in Büchern gelesen und von den
Predigern gehört haben, kommt man sich, wenn man eine Frau wird, nicht wie der
Teufel vor.
Ganz im Gegenteil – sowie ich in die
rosenbestickte Unterhose meiner seligen Mutter geschlüpft war, durchflutete
mich eine sanfte Güte, und ich wurde empfindsam wie sie. Als das pistaziengrüne
Seidenhemd meiner Tante, das zu tragen sie selbst niemals über sich brachte,
meine nackte Haut berührte, empfand ich gegenüber allen Kindern Liebe, ja
sogar gegenüber mir selbst. Ich wollte für alle Welt Essen kochen und jedermann
stillen. Nachdem ich un gefähr begriffen hatte, wie man sich mit Brüsten
fühlte, stopfte ich mir alles mögliche wie Strümpfe und Mundtücher vor die
Brust, weil ich eigentlich wissen wollte, wie ich mich als eine Frau mit großen
Brüsten fühlen würde, und als ich dann den riesigen Vorsprung sah, fühlte ich
mich, nun gut, stolz wie der Teufel. Und weil mir sogleich klar wurde, daß die
Männer dieser Fülle nachlaufen würden, wenn sie nur den Schatten davon
erblickten, daß sie zappeln und darum betteln würden, sie in den Mund nehmen zu
dürfen, fühlte ich mich stark, aber wollte ich stark sein? Mein Verstand geriet
durcheinander: Ich wollte sowohl stark sein als auch Mitleid erregen; ich
wollte von einem mir gänzlich unbekannten reichen Mann, der stark und klug war,
bis zum Wahnsinn geliebt werden, und fürchtete mich gleichzeitig vor ihm. Als
ich die ineinander verschlungenen goldenen Armreifen aus der tiefen
Aussteuertruhe meiner Mutter hervorholte und überstreifte, die in den moschusduftenden
Wollstrümpfen bei den Laken mit der Blätterstickerei versteckt lagen, das Rot
auftrug, mit dem meine Mutter ihre Wangen auf dem Rückweg vom Hamam noch röter
machte, das tannengrüne Überkleid meiner Tante anzog, mein Haar
zusammenraffte, einen dünnen Schleier gleicher Farbe darüberlegte und mich danach
in dem perlmuttgerahmten Spiegel betrachtete, überlief mich ein Schauer. Obwohl
ich meine Augen und meine Wimpern nicht berührt hatte, waren sie jetzt die
einer Frau geworden. Man konnte zwar nur meine Augen und Wangen sehen, doch ich
war eine sehr schöne Frau, und das beglückte mich sehr. Meine Männlichkeit, die
das schon vorher entdeckt hatte, stand aufrecht. Das aber verstörte mich.
Der Spiegel in meiner Hand zeigte
mir die nasse Spur einer Träne, die sich aus meinem schönen Auge gelöst hatte,
und in jenem bitteren Augenblick kam mir ein Gedicht in den Sinn, das ich nie
vergessen habe. Denn im gleichen Augenblick verlieh ich, von Allah inspiriert,
jenem Gedicht Rhythmus und Melodie und versuchte mit diesem Lied, meinen
Kummer zu vergessen:
Bin im Osten, will im Westen, bin im
Westen, will im Osten sein,
sagt mein unentschlossen Herz.
Bin ich
Mann, will ich Frau, bin ich Frau, will ich Mann sein,
flüstern mir and're Organe ein.
Wie schwer
ist's doch, ein Mensch zu sein und wie ein Mensch zu leben,
macht noch größ're Pein.
Nach vorn gewandt, wie nach hinten,
mit Osten wie mit Westen
will ich Lust empfinden.
Unsere Erzurumi-Brüder sollten dieses mir
aus dem Herzen kommende Lied besser nicht gehört haben, wollte ich sagen,
sonst würden sie in Wut geraten. Woher meine Angst? Vielleicht werden sie gar
nicht wütend, denn seht einmal – und das sage ich nicht, um Gerüchte in die
Welt zu setzen –, da ist doch der berühmte Prediger Hochwürden
Nicht-einmal-Husret Efendi, der, obwohl er verheiratet ist, genau wie ihr
feinfühligen Illustratoren angeblich die schönen Knaben mehr als uns Frauen
liebt, wobei ich nur weitersage, was mir zu Ohren kam. Aber das ist mir
gleichgültig, denn ich finde ihn ohnehin abstoßend, er ist so alt. Seine Zähne
sollen
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