Pamuk, Orhan
dafür wird man an mir noch schlimmere
Rache nehmen.«
In ihren Augen war zu lesen, daß sie
mir recht gab. Doch sie sagte: »Dann öffnet eben niemand die Tür. Lassen wir
sie doch die Tür aufbrechen, sollen sie kommen und uns mit Gewalt herausholen.
«
Mir ging sofort auf, daß dies für Şeküre
und die Kinder zwar die beste Lösung sein würde, doch ich bekam Angst und
sagte: »Aber dann gibt es Blutvergießen. Wenn der Kadi nicht dazwischentritt,
wird Blut fließen, und die Blutrache wird jahrelang andauern. Kein anständiger
Mensch wird tatenlos zusehen, wie eine Tür eingeschlagen wird, wie man ins
Haus eindringt und eine Frau entführt.«
Als sie statt einer angemessenen
Antwort die Kinder umarmte und wieder in Tränen ausbrach, erkannte ich einmal
mehr mit Bedauern, wie verschlagen und berechnend diese Şeküre war. Eine
Stimme in meinem Innern riet mir, alles stehen- und liegenzulassen und
davonzulaufen, aber ich konnte nicht mehr durch die Tür hinaus, die fast schon
am Zerbersten war. Eigentlich fürchtete ich mich genauso vor dem Aufbrechen der
Tür und dem Eindringen der Männer wie davor, daß sie die Tür nicht aufbrechen
könnten. Denn ich dachte daran, daß Kara, der mir vertraute und ängstlich
bemüht war, die Sache nicht zu weit zu treiben, seine Leute jederzeit zurückziehen
konnte und damit den Schwiegervater ermutigen würde. Als ich mich nahe an Şeküre
herandrängte, bemerkte ich, daß sie falsche Tränen weinte, doch schlimmer als
das war ihr Zittern, und das konnte sie nicht vortäuschen.
Ich ging zur Tür und schrie aus
vollem Hals: »Haltet ein, es reicht!«
Augenblicklich hörte das Gepolter
draußen auf und auch das Gejammer drinnen.
Aus einer plötzlichen Eingebung
heraus sagte ich mit sanfter Stimme, wie man zu einem Kind spricht: »Orkan soll
seiner Mutter die Tür aufmachen. Er möchte nach Hause zurück, und niemand wird
ihm deshalb böse sein.«
Kaum hatte ich das ausgesprochen,
als die Mutter nachgab, Orhan sich freimachte und ganz selbstverständlich – hatte er doch jahrelang hier gewohnt – erst den Riegel zurückschob, dann das
Querholz anhob, die Klinke öffnete und zwei Schritt von der Tür zurücktrat.
Durch den Spalt der von selbst aufgehenden Tür kam die Kälte von draußen
herein. Es war so still geworden, daß wir weit in der Ferne einen faulen Hund
hören konnten, der nichts weiter zu tun hatte, als zu bellen. Während Şeküre
Orhan küßte, den es wieder zu seiner Mutter zog, erklärte Şevket: »Ich werde
es Onkel Hasan sagen!«
Als ich sah, wie Şeküre
aufstand, ihr Mantelkleid nahm und sich fertigmachte, um hinauszugehen, war ich
so erleichtert, daß ich Angst hatte, lachen zu müssen. Ich setzte mich hin und
aß zwei Löffel von der Linsensuppe.
Kara bewies einmal mehr seine
Klugheit, denn er hielt sich von der Haustür fern. Und selbst als wir ihn zu
Hilfe riefen, weil Şevket sich plötzlich in das Zimmer seine seligen
Vaters einsperrte und den Riegel von innen vorschob, kam Kara nicht ins Haus
und hielt auch seine Männer zurück. Şevket war erst dann bereit, das Haus
zu verlassen, als seine Mutter ihm erlaubte, den Dolch mit dem Rubingriff
mitzunehmen, der seinem Onkel Hasan gehörte.
»Ihr solltet euch vor Hasan und
seinem roten Schwert fürchten«, warnte der Schwiegervater, weniger aus
Rachsucht oder weil er sich besiegt fühlte, sondern aufrichtig besorgt. Er
küßte jeden seiner Enkel, beroch ihr Haar. Und Şeküre flüsterte er etwas
ins Ohr.
Ich sah Şeküre rasch noch ein
letztes Mal zur Haustür, zu den Wänden, dem Herd hinschauen und erinnerte mich
daran, daß sie hier mit ihrem ersten Mann die glücklichsten Jahre ihres Lebens
verbracht hatte. Ob sie wohl merkte, daß jetzt das gleiche Haus zwei
unglückliche, einsame Männer beherbergte und mit dem Geruch des Todes behaftet
war? Ich hielt Abstand zu ihr auf dem Rückweg, denn sie hatte mir das Herz
gebrochen.
Es war nicht die Kälte und die
Dunkelheit der Nacht, die uns, zwei Waisen und drei Frauen, eine Sklavin, eine
Jüdin und eine Witwe, auf diesem Rückweg näher zueinanderdrängte, sondern die
Enge der fremden Stadtviertel und der kaum noch Durchgang gewährenden Gassen
sowie die Furcht vor Hasan. Wie eine Karawane, die einen Schatz mitführt, zog
unser Haufe unter dem Schutz von Karas Männern über Umwege durch Seitengassen
und einsame, abgelegene Stadtteile, nur um nicht irgendwo auf Wächter,
Janitscharen, Räuber, die neugierigen Raufbolde eines Viertels oder gar
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