Pamuk, Orhan
irgendwelchen Gründen
mit mir begleichen wollte, und ebenso viele Geschichten zu erzählen. Ich hätte
ihm vielleicht gesagt, daß hier ein Irrtum vorliegen müsse, doch ich sah die
grenzenlose Wut auf seinem Gesicht. Außerdem erkannte ich darin, daß er
vorhatte, mich in seinem Haß anzufallen und zu töten. Wie gerne hätte ich ausgerufen:
»Halt ein, bitte!«
Doch er hatte sein Vorhaben schon
ausgeführt.
Was mich betraf, so konnte ich
meinen Dolch nicht gegen ihn richten, nur die Hand heben, die mein Bündel
hielt.
Das Bündel flog in die Luft. Ohne
langsamer zu werden, schlug das rote Schwert zuerst meine Hand ab, dann
durchschnitt es meinen Hals von vorn nach hinten und trennte meinen Kopf vom
Rumpf.
Daß der Kopf ab war, merkte ich an
den beiden seltsam schwankenden Schritten, mit denen sich mein armer Rumpf von
mir entfernte, an dem dummen Geschaukel des Dolches, an der Art, wie mein
Körper zu Boden fiel, und an der Blutfontäne, die ihm entsprang. Meine armen,
von selbst weiterlaufenden Füße strampelten sich vergeblich ab wie die
zappelnden Hufe eines sterbenden Pferdes.
Von dem morastigen Boden aus, auf
den mein Kopf gefallen war, konnte ich weder meinen Mörder noch mein Bündel
voller Gold und Bilder sehen, das ich immer noch fest umklammern wollte. Diese
Sachen waren hinter meinem Nacken geblieben, auf der Hügelseite, die zum Meer
und zum Galeerenhafen hinunterführte, den ich nun nie mehr erreichen konnte.
Mein Kopf würde sich nie mehr umwenden, um sie und den Rest der Welt zu
betrachten. Ich vergaß sie und überließ meinen Kopf seinen eigenen Gedanken.
Dies war mein Gedanke gewesen, bevor
mir das Schwert den Kopf abschlug: Das Schiff wird den Galeerenhafen verlassen;
dies wurde in meinem Verstand mit dem Befehl verbunden, mich zu beeilen; und
das wiederum ergänzt von der Aufforderung meiner Mutter: »Beeile dich!« aus
meiner Kinderzeit. Mutter, mein Genick tut mir weh, und nichts bewegt sich!
Das ist es also, was man Sterben
heißt.
Doch ich wußte, daß ich noch nicht
gestorben war. Meine zerstochenen Pupillen waren starr, aber ich konnte sehr
gut sehen mit meinen offenen Augen.
Was ich vom Boden aus erblickte,
erfüllte mein ganzes Denken. Der Weg stieg leicht hügelan. Die Mauer und der
Bogen der Buchmalerwerkstatt, das Dach, der Himmel. So ging es fort.
Dieser Augenblick des Schauens
schien sich immer weiter auszudehnen, und ich begriff, Sehen war jetzt eine
Art von Erinnerung geworden. Da kam mir etwas in den Sinn, was ich früher beim
stundenlangen Betrachten eines schönen Bildes empfunden hatte: Wenn du lange
genug hinschaust, geht dein Verstand in die Zeit des Bildes ein.
Alle Zeiten waren nunmehr jene Zeit
geworden.
Mir war, als würde mich niemand
entdecken, als würde mein Kopf, während meine Gedanken verblaßten, jahrelang im
Schlamm auf diese traurige Anhöhe, die Mauer und auf die nahen, aber unerreichbaren
Kastanien- und Maulbeerbäume blicken.
Dieses endlose Warten kam mir auf
einmal so schmerzlich und beklemmend vor, daß ich dieser Zeit entkommen wollte.
59
Ich, Şeküre
Ich verbrachte eine schlaflose Nacht in dem Haus
der entfernten Verwandten Karas, die uns versteckt hielten. Zwar konnte ich in
dem Bett, das ich mit Hayriye und den Kindern teilte, zwischen Schnarchen und
Husten hin und wieder ein wenig schlafen, doch ich sah in meinen unruhigen
Träumen eigenartige Kreaturen und Frauen, deren Arme und Beine abgeschnitten
und auf gut Glück wieder angesetzt worden waren, und sie verfolgten mich, so
daß ich aufschreckte. Gegen Morgen erwachte ich von der Kälte, deckte Şevket
und Orhan ordentlich zu, umarmte sie, küßte ihr Haar und flehte zu Allah, mir
einen glücklichen Traum zu gewähren, wie in den guten Zeiten, als ich im Haus
meines Väterchens friedlich geschlafen hatte.
Doch ich konnte nicht schlafen. Als
ich nach dem Morgengebet durch die Fensterläden des kleinen, dunklen Zimmers
auf die Straße hinausschaute, sah ich, was ich stets in meinen glücklichen
Träumen erblickt hatte: einen Mann, erschöpft von Krieg und Wunden, der mit
einem Stock in der Hand, den er wie ein Schwert hielt, und mit bekannten Schritten
gespenstergleich und sehnsuchtsvoll näher kam. Gerade wenn ich in meinen
Träumen diesen Mann unter Tränen umarmen wollte, war ich stets erwacht. Sowie
ich in dem blutüberströmten Mann auf der Straße Kara erkannte, drang mir den
Schrei aus der Kehle, den ich im Traum nie herausbringen konnte.
Ich lief und öffnete die
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