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Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rot ist mein Name
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die alle nichts taugen, der eine wie der andere, was soll's, sagt ihr?
Dann will ich euch sogleich warnen: Hinter meinem Tod steht eine widerwärtige
Verschwörung gegen unseren Glauben, unsere Tradition und unsere Art, die Welt
zu sehen. Öffnet eure Augen, erkundet, warum die Feinde des Islam, die Feinde
jenes Lebens, an das ihr glaubt, mich umbrachten und eines Tages auch euch
umbringen könnten. All die Worte des großen Predigers und Hodschas, Nusret von
Erzurum, denen ich mit Tränen in den Augen gelauscht habe, bewahrheiten sich
eins nach dem anderen. Selbst die größten Meister unter den Illustratoren
würden nicht einmal in Bildern wiedergeben können, was uns geschieht, wenn man
es als Geschichte in einem Buch niederschriebe, das laßt euch gesagt sein. Die
erschütternde Kraft eines solchen Buches kommt genau wie beim Koran Allah
bewahre uns vor einem Mißverständnis! – aus der Art seiner Entstehung, die
niemals in Bildern wiedergegeben werden kann. Ich zweifle, ob ihr imstande
seid, das zu begreifen.
    Seht ihr, auch ich fürchtete mich in
der Zeit meiner Lehre vor der Stimme, die aus den Tiefen der Wahrheit, aus dem
Jenseits kam, achtete aber nicht darauf, machte mich lustig darüber. Ich fand
mein Ende am Boden dieses elenden Brunnens. Das gleiche kann auch euch
geschehen, seid wachsam! Nun kann ich nichts weiter tun als hoffen, daß man
mich vielleicht durch den eklen Geruch der Fäulnis findet, wenn ich so recht in
Verwesung übergehe; und mir außerdem die Foltern vorzustellen, die ein
Wohlmeinender an meinem gemeinen Mörder vornehmen wird, wenn man ihn gefunden
hat.

2
  Mein Name ist Kara
    Meine Ankunft in Istanbul, der Stadt, in der ich
geboren wurde und aufgewachsen bin, hatte jetzt, nachdem ich zwölf Jahre
fortgewesen war, der eines Schlafwandlers geglichen. Die Heimaterde ruft, sagt
man von dem, der dem Tode nahe ist, auch mich hat der Tod gerufen. Nur Sterben
sei hier, dachte ich zuerst, als ich den städtischen Boden betrat, dann
begegnete mir die Liebe. Doch die Liebe war in jenem ersten Augenblick der
Ankunft so weit entfernt und vergessen wie meine Erinnerungen an Istanbul.
Zwölf Jahre zuvor hatte ich mich in die Tochter meiner Tante verliebt, die damals
noch im Kindesalter gewesen war.
    Während ich im Land der Perser durch
endlose Steppen, schneebedeckte Gebirge und trostlose Städte reiste, Briefe
überbrachte oder Steuern eintrieb, hatte ich bereits vier Jahre nach meinem
Abschied von Istanbul bemerkt, wie das Antlitz meiner kindlichen Geliebten in
meinem Gedächtnis allmählich verblaßte. Ich war verwirrt und versuchte mit
größer Mühe, mich ihrer Züge zu erinnern, begriff jedoch, daß ein Gesicht, das
man niemals mehr betrachtet, langsam in Vergessenheit geraten muß. Im sechsten
jener Jahre im Osten, die ich als Schreiber und Reisender im Dienste einiger
Paschas verbrachte, wurde mir endgültig klar, daß die Züge, die ich in meiner
Phantasie zum Leben erweckte, nicht mehr die meiner Istanbuler Geliebten waren.
Desgleichen wußte ich, daß mir im achten Jahr auch die falsche Erinnerung des
sechsten Jahres entfallen war und mir mein Gedächtnis wieder etwas ganz anderes
vorspielte. Als ich zwölf Jahre später, sechsunddreißig Jahre alt, in meine
Stadt zurückkehrte, wurde mir schmerzlich bewußt, wie sehr und wie lange schon
ich das Antlitz meiner Geliebten vergessen hatte.
    Viele meiner Freunde, Verwandten und
Bekannten aus meinem Viertel waren verstorben in diesen zwölf Jahren. Ich
suchte den Friedhof auf, der auf das Goldene Horn hinunterschaut, und sprach
Ge bete für meine Mutter und meine Onkel, die während meiner Abwesenheit das
Zeitliche gesegnet hatten. Der Geruch schlammiger Erde mischte sich unter meine
Erinnerungen; an der Umrandung vom Grab meiner Mutter hatte jemand einen Krug
zerbrochen, und beim Anblick der Scherben begann ich, warum auch immer, zu weinen.
Ich weiß nicht, ob ich um die Toten weinte oder weil ich nach so vielen Jahren
seltsamerweise noch immer am Beginn meines Lebens stand oder weil ich im
Gegenteil ahnte, daß ich am Ende meiner Lebensreise angekommen war? Es hatte
fast unmerklich zu schneien begonnen. Ich war in die vereinzelt umherwirbelnden
Flocken eingetaucht und hatte in der Ungewißheit meines Lebens meinen Weg
verloren, als ich bemerkte, daß mich ein finster aussehender Hund aus einer
finsteren Ecke des Friedhofes beobachtete.
    Meine Tränen versiegten, ich wischte
mir die Nase. Der schwarze Hund wedelte freundlich mit dem

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