Pamuk, Orhan
die Laute
aus den unter mir liegenden Vierteln, die Rufe der Händler und das Geschrei
spielender Kinder im Hof der Moschee – all das verschmolz in meinem Kopf und
ließ mich ohne das geringste Erstaunen wissen, daß ich mein weiteres Leben
nirgendwo anders als in dieser Stadt verbringen könnte. Einen Atemzug lang
meinte ich, das seit Jahren vergessene Antlitz meiner Geliebten würde vor meinen
Augen wiedererstehen.
Ich ging den Abhang hinunter,
mischte mich unter die Menge. Nach dem Ruf zum Abendgebet aß ich mich in einer
Innereienküche an Leber satt. In dem sonst leeren Laden hörte ich mir aufmerksam
an, was der Besitzer erzählte, während er mir die Bissen liebevoll in den Mund
zählte, als füttere er eine Katze. Nachdem es draußen auf den Straßen gänzlich
dunkel geworden war, folgte ich seiner Anregung und bog in eine der engen
Gassen hinter dem Sklavenmarkt ein und fand das beschriebene Kaffeehaus.
Drinnen war es voll und heiß. Ein
Geschichtenerzähler, wie ich viele dieser Art in den persischen Städten gesehen
hatte und wo sie nicht meddah, sondern perdedar hießen, saß auf
einem erhöhten Platz neben dem Herd im Hintergrund und hatte ein Bild von einem
Hund aufgehängt, das auf grobem Papier eilig hingeworfen, doch mit großem
Talent gezeichnet worden war. Hin und wieder zeigte er auf den Hund und ließ
seine Geschichte aus dem Maul des Tieres hören.
3
Ich, der Hund
Wie ihr seht, sind meine Reißzähne so spitz und
lang, daß sie kaum Platz finden in meinem Maul. Das gibt mir ein
furchterregendes Aussehen, ich weiß, doch es gefällt mir. Einmal hat ein
Fleischer die Größe meiner Zähne beachtet und gemeint: »Meine Güte, das ist
kein Hund, das ist ein Schwein!«
Den habe ich so ins Bein gebissen,
daß ich an den Spitzen meiner Zähne die Härte des Schenkelknochens gleich
unterhalb vom Sitzfleisch spüren konnte. Nichts ist so ergötzlich für einen
Hund, wie seine Zähne voller Wut und Begierde in das Fleisch eines gemeinen
Feindes zu schlagen. Wenn sich mir eine solche Gelegenheit bietet und mein zu
beißendes Opfer stupide an mir vorbeitrottet, dann wird mir schwarz vor Augen
vor lauter Lust, meine Zähne schmerzen, und ganz unwillkürlich dringt das für
euch so furchteinjagende Knurren aus meiner Kehle hervor.
Ich bin ein Hund, und da ihr nicht
so vernünftige Wesen seid wie ich, fragt ihr, wie kann ein Hund sprechen!
Andererseits aber scheint ihr einer Geschichte Glauben zu schenken, in der die
Toten sprechen und die Helden nie gewußte Wörter gebrauchen. Hunde sprechen,
aber zu dem, der hören kann.
Es war einmal vor langer Zeit, als
ein ungehobelter Prediger aus einer Provinzstadt an eine der größten Moscheen
der Residenz kam, sagen wir einmal, sie hieß Beyazıt-Moschee. Man sollte
seinen Namen vielleicht verheimlichen und ihn zum Beispiel Husret Hodscha
nennen, doch was soll man weiter lügen – er war ein dickköpfiger Mann, dieser
Prediger. Wenn auch sein Verstand keinen Deut wert war, so besaß doch seine
Zunge, maşallah!, um
so mehr an Kraft. An jedem Freitag erschütterte er die Gemeinde so sehr,
brachte sie so stark zum Weinen, daß es manchen Leuten schließlich an Tränen
gebrach und sie in Ohnmacht fielen. Versteht mich bitte nicht falsch. Er selbst
weinte nie, wie andere wortgewaltige Prediger, im Gegenteil, er zuckte nicht
mit der Wimper, wenn alle anderen weinten, und seine Art, so zu reden, als rüge
er die Gemeinde, steigerte noch seine Macht. Sie mußten es wohl mögen, gerügt
zu werden, all die Leibgardisten, Palastpagen, Halwa-Köche, die Menge des
gemeinen Volkes und Prediger seinesgleichen, denn sie hingen alle in
sklavischer Ergebenheit an diesem Mann. Nun ja, ein Hund war er nicht, er war
ein ganz gewöhnliches Menschenkind, und angesichts der bewundernden Menge kam
er so recht von Sinnen und fand auf einmal nicht nur daran Geschmack, die Gemeinde
zum Weinen zu bringen, sondern sie auch das Fürchten zu lehren. Das brachte außerdem
mehr Gewinn, so daß er am Ende jedes Maß verlor und sich zu folgender Rede
hinreißen ließ:
Der einzige Grund für die Teuerung,
die Pest und die Niederlagen sei darin zu suchen, daß wir den Islam aus der
Zeit unseres Propheten vergessen hätten, von anderen Büchern und Lügen
verleitet wären und im Namen des Islam daran glaubten. Eine Seelenmesse lesen,
gab es das zur Zeit des Propheten Mohammed? Gab es die Totenfeier nach vierzig
Tagen, gab es Halwa und Krapfenbacken? Hat man den Koran zur Zeit des
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