Pamuk, Orhan
Schwanz, und ich
verließ den Friedhof. Danach mietete ich ein Haus, das früher von einem meiner
väterlichen Verwandten bewohnt worden war, und ließ mich in dem Viertel nieder.
Die Hausbesitzerin gemahnte ich an ihren Sohn, der im Krieg von safawidischen
Soldaten getötet worden war. Sie würde für mein Wohlergehen sorgen und mir die
Mahlzeiten zubereiten.
Ich verließ das Haus, irrte lange
durch die Straßen, als sei es nicht Istanbul, sondern eine der Städte Arabiens
am anderen Ende der Welt, ein vorübergehender Aufenthaltsort, den ich erkunden
wollte. Waren die Straßen enger geworden, oder schien es nur so? An manchen
Stellen, wo sie zwischen langen Häuserreihen von hüben und drüben eingeklemmt
waren, mußte ich mich dicht an Türen und Wänden vorbeidrängen, um den
Lastpferden auszuweichen. Waren die Reichen zahlreicher geworden, oder war
auch dies nur scheinbar so? Ich sah einen prunkvollen Wagen, wie es ihn weder
in Arabien noch im Land der Perser gab, er glich einer stolzen, von Pferden
gezogenen Burg. Beim Çemberlitaş, der Verbrannten Säule, sah ich in Lumpen gehüllte,
dreiste Bettler, die sich unter dem üblen Geruch, der vom Hühnermarkt
herüberwehte, aneinanderdrängten. Einer war blind, er lächelte und starrte in
den fallenden Schnee.
Vielleicht wollte ich's nicht
wahrhaben, wenn es hieß, früher sei Istanbul ärmer, kleiner und glücklicher
gewesen, doch ich wußte es mit dem Herzen. Denn das Haus meiner Geliebten, die
ich hier zurückgelassen hatte, stand noch immer an seinem Platz unter Linden
und Kastanienbäumen, doch wohnte nun jemand anders hier, wie ich an der Tür zu
hören bekam. Die Mutter meiner Geliebten, meine Tante, sei gestorben, der Onkel
sei mit seiner Tochter verzogen und die Familie habe einiges Unheil ertragen
müssen, sagten mir die neuen Bewohner, ohne zu merken, wie erbarmungslos sie
das Herz und die Wunschträume eines anderen Menschen zerbrachen. Jetzt will
ich aber nicht weiter darauf eingehen, will nur sagen, daß an den Zweigen der
Linde in dem alten Garten Eiszäpfchen hingen, so groß wie mein kleiner Finger,
und daß der Garten, der an sonnenwarme Sommertage und tiefes Grün erinnerte,
den Menschen nun in seiner Trauer, Vernachlässigung und seiner Schneedecke an
den Tod denken ließ.
Durch einen Brief, den mir mein
Oheim nach Täbris geschickt hatte, war ich ohnehin schon über das Schicksal
meiner Verwandten unterrichtet. Mit jenem Brief hatte mich der Oheim nach
Istanbul gerufen, da er an einem geheimen Buch Im Auftrag unseres Padischahs arbeitete
und wünschte, daß ich ihm dabei half. Man habe ihm gesagt, ich sei während
meiner Zeit in Täbris von osmanischen Paschas und Walis und von Bestellern aus
Istanbul um die Anfertigung von Büchern gebeten worden. Tatsächlich hatte, wer
von mir Bücher erwünschte, vorher zahlen müssen, dann war ich in Täbris auf die
Suche nach jenen Illustratoren und Kalligraphen gegangen, die noch nicht aus
Überdruß an den Kriegen und den osmanischen Soldaten von hier nach Kazvin oder
einer anderen persischen Stadt geflohen waren, und hatte von den großen Meistern,
die über Geldnot und Hintansetzung klagten, Bücher schreiben, illustrieren und
binden lassen und diese Werke dann nach Istanbul auf den Weg gebracht. Ohne die
Liebe zur Malerei und zu schönen Büchern, die mir der Oheim in meiner Jugend
eingab, hätte ich mich auf diese Tätigkeit niemals eingelassen.
Der Barbier am Ende der zum Markt
führenden Straße, in dem mein Oheim einmal gewohnt hatte, war noch immer
Meister in seinem Laden zwischen den gleichen Spiegeln, Rasiermessern, Schnabelkännchen
und den Fäden aus Seife. Unsere Augen begegneten sich, doch weiß ich nicht, ob
er mich erkannte. Es machte mir Freude, daß die Schüssel für die Haarwäsche,
die er mit heißem Wasser füllte, am Ende ihrer Kette von der Decke schaukelnd
noch immer den gleichen Bogen beschrieb.
Manche der Viertel, manche der
Straßen, die ich in meiner Jugend durchstreift hatte, waren in Rauch
aufgegangen, zu Asche verbrannt und verweht, es gab Brandlücken, wo einem die
Hunde den Weg verstellten und die Irren den Kindern Angst einjagten, an manchen
Stellen wieder hatten Reiche ihre Landhäuser errichtet, die einen wie mich, der
aus der Ferne kam, in Erstaunen versetzten. Darunter waren einige mit den
teuersten bunten Fenstern aus venezianischem Glas. An den über hohen Mauern
vorspringenden Erkern konnte ich sehen, daß während meiner Abwesenheit viele
von
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