Pamuk, Orhan
hat er
tatsächlich ein Auge auf die Tochter seiner Hauswirtin geworfen? Manchmal
traue ich Kara nicht im geringsten und fürchte, er könnte Şeküre auf
schlimme Art hintergehen. Obwohl er den ganzen Tag mit Şeküre in
demselben Haus verbringt, ist er unfähig, ihr ein Zeichen zu geben.
Draußen auf der Straße öffnete ich
die Börse, es kamen zwölf Asper und ein Brief heraus. Ich war so gespannt auf
den Brief, daß ich schnellstens zu Hasan lief. Vor den Grünzeugläden hatte man
Kohlköpfe und Mohrrüben ausgebreitet. Doch ich war nicht einmal in der Lage,
die prallen Lauchstengel anzurühren, die mich einluden: Komm, Ester, greif zu!
Als ich in die Straße einbog, merkte
ich, daß der blinde Tatar wieder dumm schwätzen würde. So spie ich ihm meine
Verachtung zu: »Pfuiiii!«, nichts weiter. Warum bringt die Kälte solche
Kreaturen nicht einfach durch Erfrieren um?!
Ich zügelte meine Ungeduld nur
schwer, während Hasan den Inhalt des Briefes studierte. Schließlich hielt
ich's nicht mehr aus, fragte: »Ja?«, und er las mir vor:
»Liebste Frau Şeküre, wie Du wünschst,
soll ich Deines Vaters Buch beenden. Wisse, daß ich nur dies und nichts anderes
bezwecke. Ich komme in dieser Absicht in jenes Haus, und nicht, wie ich Dir
bereits zuvor sagte, um Dir die Ruhe zu rauben. Daß meine Liebe zu Dir meine ganz eigene Sorge ist, weiß ich genau.
Aber dieser Liebe wegen bin ich auch nicht imstande, die für das Buch
bestimmten Traktate zu schreiben, wie es Dein Vater, mein Oheim, wünscht. Wann
immer ich Deine Gegenwart im Hause spüre, bin ich wie versteinert und Deinem
Vater keine Hilfe. Lange habe ich nachgedacht, aber dies hat nur einen
Grund: Ich habe Dein Antlitz nach zwölf Jahren nur einmal erblickt, als es am
Fenster erschien. Jetzt befürchte ich, dieses Bild könnte mir wieder
verlorengehen. Sähe ich Dich einmal mehr aus der Nähe, hätte ich keine Furcht,
Dein Antlitz zu verlieren, und ich würde das Buch Deines Vaters mit
Leichtigkeit beenden. Şevket brachte mich gestern in das leere Haus des
gehenkten Juden. Niemand sieht uns in dem leeren Haus. Heute, oder wann immer
Du willst, möchte ich dort hingehen und auf Dich warten. ,Şevket sagte
gestern, Du habest im Traum gesehen, daß Dein Ehemann tot ist.«
Einige Stellen des Briefes hatte Hasan mit
schriller, hoher Frauenstimme, andere wieder zittrig und bettelnd wie ein leidenschaftlich
Verliebter gelesen und dazwischen laut gelacht. Er machte sich lustig über den
Wunsch, »Dich nur einmal zu sehen«, indem er ihn auf persisch sagte. »Sobald er
sieht, daß Şeküre ihm Hoffnung macht, fängt er zu handeln an«, sagte er.
»Diese berechnende Art ist nicht die eines wahrhaft Liebenden!«
»Er ist aber wahrhaftig in Şeküre
verliebt«, sagte ich einfältigerweise.
»Dieses Wort beweist mir, daß du auf
Karas Seite stehst«, stellte er fest. »Sie schreibt, sie habe im Traum
erfahren, daß mein Bruder tot sei, und das bedeutet auch: Ich erkenne den Tod
meines Ehemannes an.«
»Das ist ein Traum«, meinte ich
dümmlich.
»Ich weiß, was für ein kluger Gauner
Şevket ist. Wie viele Jahre haben wir in diesem Haus zusammen gewohnt!
Wär's nicht mit Erlaubnis und auf Drängen der Mutter gewesen, hätte Şevket
Kara niemals zum Haus des gehenkten Juden geführt. Wenn Şeküre glaubt, sie
könne meinen Bruder aus unserer Mitte entfernen, dann irrt sie sich! Mein
Bruder lebt und wird aus dem Krieg zurückkehren.«
Noch bevor er seine Rede beendet
hatte, ging er ins hintere Zimmer, wollte an der Herdflamme eine Kerze
entzünden, verbrannte sich die Hand und schrie auf. Schließlich brachte er die
Kerze zum Brennen, während er sich immer wieder die Hand leckte, und stellte
sie neben einem Ständer auf. Er holte einen gespitzten Stift aus dem
Schreibzeug am Gürtel, tauchte ihn in das Tintenfäßchen und begann, rasch auf
einem kleinen Stück Papier zu schreiben. Es gefiel ihm, von mir beobachtet zu
werden, das begriff ich sofort, doch um ihm zu zeigen, daß ich keine Furcht vor
ihm hatte, lächelte ich ihm mit äußerster Anstrengung zu.
»Wer ist dieser gehenkte Jude, du
weißt es doch?«
»Nicht weit entfernt von ihnen gibt
es ein gelbes Haus. Der geliebte Leibarzt des vorigen Padischahs, der
steinreiche Mosche Hamon, soll dort jahrelang seine jüdische Mätresse aus
Amasya und deren Bruder versteckt gehalten haben. Als im jüdischen Viertel von
Amasya vor vielen Jahren am Vorabend des Passahfestes angeblich ein
griechischer Junge verschwunden
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