Pamuk, Orhan
war, wurde behauptet, man habe ihm die Kehle
durchgeschnitten, um aus seinem Blut Matze zu machen. Und als dann noch falsche
Zeugen auftraten und man die Juden hinzurichten begann, habe der Lieblingsarzt
des Sultans der schönen Frau und seinem Bruder die Flucht ermöglicht und mit
Erlaubnis seines Herrn versteckt. Seine Feinde konnten nach dem Tod des
Padischahs die schöne Frau nicht zu fassen kriegen, doch den allein lebenden
Mann hängten sie auf.«
»Wenn Şeküre die Rückkehr
meines Bruders aus dem Krieg nicht abwartet, dann wird man sie auch bestrafen«,
sagte Hasan und gab mir die Briefe.
Doch nicht Gier und Zorn standen auf
seinem Gesicht zu lesen, sondern Kummer über die Ungunst des Schicksals.
Plötzlich sah ich in den Augen dieses Mannes, daß er durch seine Liebe in
kurzer Zeit gealtert war. Sein Geld, das durch seine Arbeit beim Zollamt
vermehrt worden war, hatte ihn nicht im geringsten jünger werden lassen. Aus
seinen gekränkten Blicken schloß ich, daß er mich möglicherweise wieder fragen
wollte, wie er Şeküre nach all den Drohungen doch noch überreden könnte.
Doch er war bereits so nahe dran, ein durch und durch schlechter Mensch zu
sein, daß er es nicht fertigbringen würde, diese Frage zu stellen. Wenn der
Mensch sich dann eingesteht, daß er schlecht ist – und die Zurückweisung seiner
Liebe ist ein gewichtiger Grund –, dann steht der Gewalt kaum noch etwas im
Wege. Meine Furcht vor dem grauenvollen roten Schwert, das zerschnitt, was es
berührte, wie die Kinder gesagt hatten, und vor den möglichen Folgen war so
groß, daß ich in Panik geriet, nur noch weglaufen wollte und mit Mühe und Not
hinaus auf die Straße kam.
So wurde ich von den Lästerungen des
tatarischen Bettlers überrumpelt. Doch ich faßte mich sofort, nahm ein
Steinchen vom Boden auf, legte es behutsam in sein Taschentuch und sagte: »Da,
nimm's, du räudiger Tatar!«
Ich lachte nicht, während ich zusah,
wie er hoffnungsvoll die Hand nach der vermeintlichen Münze ausstreckte. Ohne
mich um seine Flüche zu kümmern, ging ich zu einem meiner Mädchen, für die ich
einen guten Ehemann gefunden hatte.
Das liebe Kind holte für mich eine
mit Spinat gefüllte Pastete hervor, die zwar vom Vortag stammte, doch immer
noch knusprig war, und bereitete für den Mittagstisch ein Lammragout vor, mit
viel Eigelb in der Soße und leicht mit Pflaumen angesäuert, wie ich's liebe. Um
ihr nicht das Herz zu brechen, wartete ich und aß dann zwei Kellen voll davon
mit frischem Brot. Sie hatte auch eine schöne Traubenkaltschale gekocht, und
ohne mich zu zieren bat ich um Rosenkonfitüre, mischte einen Löffel davon in
die Kaltschale, damit's besser runterging, und nachdem ich sie gegessen hatte,
überbrachte ich meiner traurigen Şeküre die Briefe.
26
Ich, Şeküre
Als Hayriye sagte, Ester sei gekommen, war ich
dabei, die Wäsche in die Truhe zu legen, die tags zuvor gewaschen und
getrocknet worden war ... wollte ich sagen. Doch warum soll ich euch anlügen?
Nun gut, ich beobachtete meinen Vater und Kara durch das Loch im Schrank, und
da ich ungeduldig auf die Briefe von Kara und Hasan wartete, waren meine
Gedanken ohnehin bei Ester, als sie kam. Denn so, wie ich ahne, daß meines
Vaters Angst vor dem Tod auf einem berechtigten Verdacht beruht, weiß ich auch,
daß Karas Zuneigung zu mir nicht bis ans Ende des Lebens dauern wird. Er
möchte mich heiraten, solange er verliebt ist. Weil er heiraten möchte,
verliebt er sich auch leicht. Kann ich's nicht sein, dann heiratet er eine
andere, in die er sich, bevor er sie heiratet, verlieben wird.
Hayriye hatte Ester in eine
Küchenecke gesetzt, ihr ein Glas Rosensorbet in die Hand gedrückt und blickte
mich schuldbewußt an. Seitdem sie mit meinem Vater schläft, muß ich immer daran
denken, daß sie ihm jede Kleinigkeit weitererzählt, die sie sieht, und das
macht mir angst.
»Mein Schwarzauge, mein schwarzes
Glück, Schönste der Schönen, ich bin spät dran, weil mich Nesim, dieser
Starrkopf von Ehemann, einfach nicht gehen lassen wollte!« erklärte Ester.
»Du hast keinen Mann, der dich bedrängen könnte, wisse das zu schätzen!«
Als sie die Briefe hervorholte, riß
ich sie ihr aus der Hand. Hayriye hatte sich in eine Ecke zurückgezogen, so
daß sie mir nicht vor den Füßen herumlief, aber doch alles hören würde. Ich
kehrte Ester den Rücken zu, damit sie mir nicht ins Gesicht sehen konnte, und
las zuerst Karas Brief. Bei dem Gedanken an das Haus des gehenkten
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