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Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rot ist mein Name
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Juden
begann ich zu zittern. Fürchte dich nicht, Şeküre, sprach ich mir Mut zu,
du wirst mit allem fertig werden, und begann, den Brief von Hasan zu lesen. Der
war nahe dran, gänzlich den Verstand zu verlieren.
    »Frau Şeküre, ich bin lichterloh
entflammt, weiß aber auch, daß es Dir gleichgültig ist. Ich sehe mich nachts in
meinen Träumen über einsame Hügel Deinem Phantom nachlaufen. Jedesmal, wenn Du
meine Briefe – die Du liest, wie ich weiß – unbeantwortet läßt, durchbohrt ein
dreifach gefiederter Pfeil mein Herz. In der Hoffnung, daß Du Antwort gibst,
schreibe ich dies. Es wurde bekannt und ging von Mund zu Mund, was Deine Kinder
gesagt haben sollen: Ich sah's im Traum, mein Ehemann ist tot, ich bin frei,
habest Du erklärt. Ob es stimmt, weiß ich nicht. Doch ich weiß, daß Du immer
noch mit meinem älteren Bruder verheiratet bist und in diesem Haus hättest
bleiben müssen. Da jetzt auch mein Vater mir recht gibt, werden wir heute zum
Kadi gehen, um Dich nach Hause zurückzuholen. Wir. werden Männer zusammenrufen
und kommen, auch Dein Vater soll es wissen. Bereite Dein Bündel vor, Du kommst
heim. Deine Antwort wirst Du sofort durch Ester schicken.«
    Nachdem ich den Brief ein zweites Mal
gelesen hatte, riß ich mich zusammen und blickte Ester fragend an. Doch sie
sagte mir nichts Neues, weder über Hasan noch über Kara.
    Ich holte sofort den Stift aus
seinem Versteck am Rand des Topfschranks hervor, legte ein Stück Papier auf
das Brotbrett und wollte gerade einen Brief an Kara beginnen, hielt jedoch
inne.
    Mir war etwas eingefallen. Ich
drehte mich zu Ester um: Sie hatte den Rosensorbet mit solch einer kindlichen
Freude hinuntergeschlürft, daß es mir für einen Augenblick ganz unsinnig
erschien, sie könnte wissen, was ich dachte. Ich legte Papier und Stift zurück
an ihren Platz, wandte mich um und lächelte ihr zu.
    »Sieh an, wie hübsch du lächelst,
meine Liebe«, sagte sie. »Mach dir keine Sorgen, es wird alles gut werden.
Istanbul wimmelt nur so von reichen Herren und Paschas, die sich darum reißen,
ein so wunderschönes Mädchen, eine solche Tausendkünstlerin wie dich zu
heiraten.«
    Wie ihr wißt, drücken wir manchmal
etwas, woran wir glauben, einem anderen gegenüber so aus, daß wir uns nachher
fragen: »Warum habe ich so ungläubig davon gesprochen, obwohl ich doch daran
glaube?« Und so sagte ich zu ihr: »Aber Ester, wer will schon eine Witwe mit
zwei Kindern heiraten, um Himmels willen!«
    »So eine wie dich wollen viele,
viele Männer heiraten«, sagte sie und beschrieb das »Viele« mit den Händen.
    Ich blickte ihr in die Augen – und
dachte, daß ich sie nicht mochte. Als ich hartnäckig schwieg, verstand sie, daß
ich ihr keinen Brief geben würde, ja, daß sie fortgehen mußte. Nachdem Ester gegangen
war, fühlte ich, wie soll ich's sagen, dasselbe Schweigen in meiner Seele und
zog mich in mich selbst zurück.
    Lange stand ich im Dunkeln an die
Wand gelehnt da und tat nichts. Ich dachte über mich nach, über meine wachsende
Furcht und was ich tun sollte. Die ganze Zeit über konnte ich aber von oben her
Şevket und Orhan reden hören.
    »Du bist ein Feigling wie Kara«,
erklärte Şevket. »Du greifst von hinten an.«
    »Mein Zahn wackelt«, sagte Orhan
nur.
    Andererseits aber verfolgte ich mit
einem Teil meines Bewußtseins, was sich zwischen meinem Vater und Kara zutrug.
    Da die blaue Tür zum Arbeitszimmer
offenstand, war es mir ein leichtes, ihr Gespräch mit anzuhören. Mein Vater
sagte: »Nach den Porträts der italienischen Meister muß man verzagt erkennen,
daß die Augen auf dem Bild nun nicht mehr eins wie das andere und einfach runde
Löcher sind, sondern unseren eigenen Augen gleichen, daß sie das Licht wie ein
Spiegel zurückwerfen und wie ein Brunnen in sich hineinziehen. Die Lippen sind
kein Spalt auf der papiernen Fläche des Gesichts, sondern ein jeweils anders
rotgetönter Knoten der Bedeutungen, der im Straffen und Entspannen all unserer
Freude und Trauer, unserer Seelensprache Ausdruck verleiht. Und auch unsere
Nasen sind keine fade Wand, die unser Gesicht in zwei Hälften teilt, sondern
für jeden von uns ein lebendiges, wißbegieriges Werkzeug von ganz
unterschiedlichen Formen.«
    Wunderte sich Kara genauso wie ich
darüber, daß mein Vater für die ungläubigen, Bildnisse malenden Herren das
»Wir« gebrauchte? Als ich durch das Loch schaute, erschien mir Karas Antlitz so
blaß, daß ich plötzlich Angst bekam. Mein geliebter

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