Pamuk, Orhan
zu lassen. Nesim schaute mit fragenden Augen zu. Ich nahm
mein riesiges, aber ein wenig trügerisches Bündel auf, das ich immer bei mir
trage, wenn ich Briefe überbringe.
»Şeküre, die Tochter des
Oheims, ist in Liebe entbrannt«, erklärte ich. »Die Ärmste hat richtig den
Verstand verloren.«
Laut lachend ging ich hinaus, doch
gleich darauf empfand ich tiefe Scham. Eigentlich sollte ich mich nicht lustig
machen über Şeküres Herzensabenteuer, sondern ihr kummervolles Leben beweinen.
Wie schön sie ist, mein trauriges Schwarzauge!
Schnell lief ich an den schäbigen
Häusern des Judenviertels vorbei, das in der kalten Morgenfrühe noch
verlassener und elender wirkte. Als ich viel später an der Ecke zu Hasans
Straße den blinden Bettler sah, der dort seinen Platz hat und das Kommen und
Gehen überwacht, schrie ich mit aller Kraft: »Die Hausiererin!«
»Du fette Hexe«, sagte er, »auch
wenn du nicht brüllst, erkenne ich dich am Laut deiner Schritte.«
»Du blindes Ekel«, gab ich zurück,
»unglückbringender Tatar! Blinde sind von Allah verflucht. Er strafe dich!«
Früher hätte mich das nicht so
verärgert und aufgeregt. Hasans Vater öffnete die Haustür. Er ist Abchase, ein
Herr, vornehm.
»Schauen wir, was Ihr uns diesmal
gebracht habt«, sagte er.
»Schläft dein fauler Sohn?«
»Schlafen? Er wartet sehnsuchtsvoll
auf eine Nachricht von dir.«
Dieses Haus war so dunkel, daß ich
jedesmal meinte, ich sei in ein Grab gestiegen. Şeküre fragt nie nach dem
Ergehen der Bewohner, doch mein ständiges Reden über das Haus soll sie
unbedingt davon abhalten, jemals in dieses Grab zurückzukehren. Selbst daß
meine schöne Şeküre einmal die Frau dieses Hauses war und mit ihren
ausgelassenen Söhnen hier gelebt hat, ist nur schwer vorstellbar. Drinnen roch
es nach Schlaf und Tod. Ich betrat das nächste Zimmer, noch tiefer hinein ins
Dunkel.
Man sah die Hand vor Augen nicht.
Kaum hatte ich den Brief hervorgezogen, als sich Hasan im Finstern bemerkbar
machte und ihn mir aus der Hand riß. Ich überließ ihn wie immer sich selbst,
damit er seine Neugier stillte und las. Er hob sogleich wieder den Kopf.
»Gibt es nichts weiter?« fragte er
und wußte zugleich, daß es nichts weiter gab. »Es ist ein kurzer Brief«, sagte
er und las vor:
»Kara Efendi, Du kommst in unser
Haus, bleibst den ganzen Tag über. Doch wie ich hörte, schreibst Du nicht eine
einzige Zeile für das Buch meines Vaters. Hege keine falschen Hoffnungen, bevor
das Buch meines Vaters beendet ist.«
Den Brief in der Hand, blickte er mir gerade ins
Auge, als sei alles, was geschah, mein Fehler, und als wolle er mich
beschuldigen. Die Stille in diesem Haus mag ich ganz und gar nicht.
»Kein Wort mehr davon, daß sie
verheiratet ist, daß ihr Mann aus dem Krieg zurückkommen wird«, stellte er
fest. »Warum?«
Und ich fragte: »Woher soll ich das
wissen? Ich schreibe diese Briefe nicht.«
»Manchmal bezweifle ich selbst das«,
sagte er und gab mir den Brief zusammen mit fünfzehn Asper zurück.
»Manche Männer werden geizig, je
mehr sie verdienen, aber du bist nicht so«, sagte ich.
Dieser Mensch hatte etwas so
teuflisch Kluges an sich, daß man verstehen konnte, warum Şeküre seine
Briefe trotz all seiner dunklen, bösen Seiten noch annahm.
»Was ist mit dem Buch von Şeküres
Vater?«
»Du weißt, was damit ist! Unser
Padischah bezahlt alles, heißt es.«
»Es liegt an diesem Buch, daß sich
die Illustratoren gegenseitig umbringen«, sagte er. »Des Geldes wegen oder – Allah bewahre! weil es unseren Glauben lästert? Wer diese Bilder anschaut,
wird sofort blind, sagt man.«
Er lächelte dabei auf eine solche
Art, daß ich verstand, es war nicht ernst zu nehmen. Selbst wenn die Sache an
sich ernst zu nehmen war, gab es zumindest für ihn nichts Ernstes daran, daß
ich sie ernst nahm. Wie viele Männer, die meiner bedürfen, wo es um die
Vermittlung und die Weitergabe von Briefen geht, so behandelt auch Hasan mich
geringschätzig, sobald sein Stolz verletzt wird. Wie sich's für meinen Beruf
gehört, zeige ich mich dann bedrückt, um ihnen einen Gefallen zu tun. Wird
hingegen der Stolz der Mädchen gebrochen, umarmen sie mich und weinen.
»Du bist eine kluge Frau«, sagte
Hasan, weil er meinte, er habe meinen Stolz verletzt und müsse mich
besänftigen. »Schnell, bring den Brief hin. Ich bin auf die Antwort des dummen
Kerls gespannt.«
Einen Augenblick war ich versucht zu
sagen: »Kara ist gar nicht so dumm.« Es
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