Pandaemonia 01 - Der letzte Traumwanderer
breiten Gasse zum Wollmarkt, wo sie das Labyrinth verließen. Wenig später kam der Palasthügel in Sicht, sodass es Zeit für den Abschied wurde.
»Danke, dass du dich so für mich eingesetzt hast«, sagte Liam. »Das bedeutet mir sehr viel.« Er lächelte sie an - und da war es wieder, dieses seltsame Gefühl, das ihr Herz wie verrückt klopfen ließ. Hastig senkte sie den Blick, damit er nicht bemerkte, was in ihr vorging. Obwohl sie sich gar nicht sicher war, ob sie überhaupt wollte, dass er es nicht bemerkte.
»Keine Ursache«, murmelte sie.
Leise sprach er weiter: »Komm morgen bei Einbruch der Dunkelheit zur Nordseite des Gartens. Ich erwarte dich hinter der Mauer, neben dem geflügelten Löwen. Du kannst ihn von außen sehen.«
»Wäre es nicht einfacher, ich besuche dich im Palast? Offiziell sind wir schließlich miteinander verwandt.«
»Man wird dich nicht hineinlassen. Die Spiegelmänner sind vorsichtig geworden. Es ist besser, wir machen es so.«
»Also gut.«
Plötzlich herrschte verlegenes Schweigen zwischen ihnen. Es gab so vieles, das Vivana gerne gesagt hätte, aber irgendwie fand sie nicht die richtigen Worte dafür.
»Es wird Zeit«, sagte Liam schließlich. »Also, pass auf dich auf.«
Er wollte nach ihrer Hand greifen, doch dann zögerte er und streifte sie nur. Er lächelte noch einmal, bevor er sich abwandte und in Richtung Palast ging.
Vivana sah ihm nach, bis ihn die Schatten zwischen den Gaslaternen verschluckten. Ihr Herz klopfte immer noch heftig.
Sie hatte es geschafft. Sie hatte Tante Livia ein Flakon mit javva abgerungen, und morgen würde sie gemeinsam mit Liam das größte Abenteuer ihres Lebens bestehen. Für einen Augenblick war sie so glücklich wie schon lange nicht mehr.
Doch die Euphorie hielt nicht lange an. Als sie zum Palast aufblickte, kam ihr der ganze Plan plötzlich wie die abwegigste Idee der Welt vor. Sie wollten in den Palast von Lady Sarka einbrechen, in die Privatgemächer der mächtigen Herrscherin von Bradost, ein Junge und ein Mädchen, die nichts besaßen als ihren Mut und ein Fläschchen mit magischem Elixier. So ein Vorhaben musste einfach scheitern.
Bedrückt machte sie sich auf den Heimweg.
Ein Blitz flackerte am Himmel auf, gefolgt von Donner, der über die Stadt rollte.
30
Erinnerungen
G edankenverloren streifte Lucien durch Flure und Zimmer, während von draußen das Klagen des Windes hereindrang. Nirgendwo brannte eine Lampe oder wenigstens eine Kerze, und das vergehende Abendlicht, das durch die Fensterscheiben sickerte, wich allmählich der Dunkelheit in den Korridoren.
Das Haus stand irgendwo in der Altstadt Bradosts und wirkte unscheinbar und klein inmitten der herrschaftlichen Patrizieranwesen, die es umgaben. Efeu kletterte an der verwitterten Fassade empor und überdeckte Simse und Steinmetzornamente mit seinen Ranken. Kamine, von denen niemals Rauch aufstieg, krönten das steile Schieferdach. Die Zimmer enthielten Möbel aus Ebenholz, kostbare Teppiche bedeckten die Böden, die Decken waren mit Stuckarbeiten versehen. Auf der Rückseite gab es einen Hof mit hohen Mauern, in den kaum je ein Sonnenstrahl drang. Ein Brunnen stand dort. Das Wasser plätscherte aus dem Schnabel eines steinernen Greifen, im Becken schwammen die Blätter der alten Birke, die in einer Ecke wuchs.
Das Haus war verlassen, lange schon. Wem es gehörte, wusste niemand. Die Männer, die es instand hielten, glaubten, es sei im Besitz einer alten Adelsfamilie. Lucien selbst hatte dieses Gerücht verbreitet. Seine Anweisungen hinterlegte er einmal im Monat schriftlich auf einem Tischchen in der Eingangshalle,
zusammen mit dem Lohn und dem Geld für die Reparaturen, sodass er den Arbeitern niemals begegnete. Sie stellten keine Fragen, wofür er sie gut bezahlte.
Fast jeder Schilling, den er mit dem Verkauf von Diebesgut verdiente, floss in dieses Haus. Lucien hätte es nicht ertragen, es verfallen zu sehen. Es steckte voller Erinnerungen - Erinnerungen an Caitlin.
In den Wandregalen standen ihre Bücher. In der Schatulle auf der Kommode lag ihr Silberschmuck. In den Schränken hingen ihre Kleider.
Dort, am Fenster, hatte sie jeden Abend gesessen und dem Treiben in den Gassen zugeschaut.
Da, vor dem Spiegel, hatte sie ihr kastanienbraunes Haar gebürstet.
In der kupfernen Wanne hatte sie ein Bad genommen, wenn es draußen stürmte und schneite.
Im Bett mit dem nachtblauen Baldachin hatten sie sich geliebt.
Lucien ging von Zimmer zu Zimmer, strich
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