Pandaemonia 01 - Der letzte Traumwanderer
Elixier kam er nicht an den Spiegelmännern vorbei. Egal - irgendwie würde er es schaffen, zu dem Jungen vorzudringen.
Er hörte Stimmen und hastige Schritte näher kommen. In der Dunkelheit hinter ihm flackerte Feuer auf. Seth war offenbar nicht so schwer verletzt, dass er zurückbleiben musste.
Ein Incubus, zwei Vílen und der mächtigste aller Alben waren ihm auf den Fersen - und er hatte keine einzige Waffe bei sich. Lucien rannte, so schnell er konnte.
Im Haupttunnel durfte er nicht bleiben, denn dort konnte
Seth ihn aus sicherer Entfernung mit seinem Höllenfeuer niederstrecken. Er bog in einen Seitengang ein, in der Hoffnung, seine Verfolger in dem labyrinthischen Tunnelgewirr abzuschütteln.
Die Luft roch stickig, nach Moder und Fäulnis. Das Mauerwerk war alt, uralt, Knochen stapelten sich in den Nischen. Lucien setzte mit einem Sprung über einen Trümmerhaufen hinweg, gelangte zu einer weiteren Kreuzung - und blieb abrupt stehen.
Augenpaare glühten in der Finsternis auf.
Ghule.
Und sie kamen geradewegs auf ihn zu.
31
Das gelbe Buch von Yaro D’ar
A m späten Nachmittag wurde der Wind immer heftiger. Als es kaum noch möglich war, im Garten zu arbeiten, gab Ibbott Hume seinen Gehilfen für den Rest des Tages frei, woraufhin sich Liam und Jackon in den Gemeinschaftsraum setzten und die Zeit totschlugen. Nach einer halben Stunde sagte Jackon, er sei müde, und zog sich in seine Kammer zurück. Es war Liam schon gestern aufgefallen, dass mit Jackon etwas nicht stimmte. Der Rothaarige war wortkarg und wirkte übernächtigt und bedrückt. Er hatte sich nicht einmal nach Liams Treffen mit Vivana erkundigt, obwohl er noch am Tag zuvor vor Neugierde schier geplatzt war, als Liam sie einmal erwähnt hatte. Liam sprach ihn darauf an, bekam jedoch nur eine ausweichende Antwort. Was immer Jackon zu schaffen machte, er wollte nicht darüber reden.
Nachdem der Rothaarige gegangen war, wurde Liams innere Unruhe immer größer. Die Zeit bis Sonnenuntergang verstrich quälend langsam. Um auf andere Gedanken zu kommen, blätterte er in den Zeitungen, die im Gemeinschaftsraum herumlagen, doch er konnte sich nicht auf den Text konzentrieren. Wieder und wieder dachte er über die bevorstehende Nacht und die Gefahren nach, die Vivana und ihn erwarteten. Mit dem javva würde es nicht schwierig werden, in den Kuppelsaal einzudringen. Aber was, wenn es dort auch andere Wächter gab, gegen die das Elixier wirkungslos war - Wesen
wie das unheimliche Zwergending? Oder wenn sie gar Lady Sarka höchstpersönlich begegneten? Je länger Liam sich Gedanken machte, desto mehr Tücken und Hindernisse, auf die sie stoßen könnten, fielen ihm ein. Schließlich fragte er sich, ob dieser verrückte Plan sie nicht geradewegs ins Verderben führte.
Ibbott Hume, der mit ihm im Gemeinschaftsraum saß, bemerkte irgendwann seine Nervosität. Liam schob seine Unrast auf das seltsame Wetter und ging zu seiner Kammer, bevor Hume misstrauisch werden konnte. Dort setzte er sich ans Fenster und wartete darauf, dass es endlich dunkel wurde.
Der Wind peitschte Büsche und Bäume und ließ Blätter und Zweige durch die Luft wirbeln. Vom Karst im Norden kam ein nicht endender Strom von Wolken, die schwarz und tief über der Stadt hingen und zum Meer weiterzogen, ohne ihre Gewitterlast unterwegs abzuladen. Es war mehr als einen Tag her, dass Liam das letzte Mal die Sonne gesehen hatte.
Schließlich, nach endlosen Stunden, begann sich die Nacht herabzusenken. Gaslaternen flammten in den Gassen auf. In der Altstadt machten Ausrufer die Runde, verkündeten den Beginn der Ausgangssperre in einer halben Stunde und forderten die Leute auf, nach Hause zu gehen. Ihre Stimmen waren im Heulen des Windes kaum zu verstehen.
Liam atmete zweimal tief durch, bevor er seine Kammer verließ.
Für den Fall, dass jemand wissen wollte, wohin er ging, hatte er sich den Vorwand zurechtgelegt, er habe seine Jacke im Garten vergessen. Doch niemand sprach ihn an, als er nach draußen trat.
Der Wind war so stark, dass er sich mit seinem ganzen Körpergewicht dagegenstemmen musste, um voranzukommen. Abgesehen von den Spiegelmännern vor dem Hauptportal und jenen vor dem Gesindetrakt hielt sich niemand draußen auf.
Liam ging gemächlich den Weg entlang, bis das Buschwerk ihn verdeckte, und huschte dann zur Mauer, der er folgte, bis er zu der Statue des geflügelten Löwen kam.
Kletterpflanzen überwucherten die verwitterte Steinfigur, der ein Flügel fehlte. Liam
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