Pandaemonia 01 - Der letzte Traumwanderer
Tasche, von dem ich wissen sollte?«
»Was man eben so braucht. Vertrau mir.«
Sie traten hinaus auf den Gang. Im Gesindeflügel begegnete ihnen niemand. Kurz darauf kamen sie zur Eingangshalle.
Liams Mund wurde trocken vor Angst, als sie an den Spiegelmännern unter den Galerien vorbeischlichen. Kein Maskierter
rührte sich von der Stelle, nicht einmal dann, als sie einer der Gestalten so nahe kamen, dass Liam sie hätte berühren können. Die Spiegelmänner konnten sie tatsächlich nicht sehen. Trotzdem legte sich seine Furcht nicht vollständig. Er wünschte, es hätte einen anderen Weg gegeben, als sein Leben einem magischen Elixier anzuvertrauen, dessen Wirkung er nicht einmal ansatzweise begriff.
Von der Halle aus folgten sie dem Korridor zum Kuppelsaal. Es war dunkel; die Nacht presste sich gegen die Scheiben der hohen Fenster. In der Ferne, jenseits der Stadt, zuckten Blitze. Falls es Donner gab, so übertönte ihn der Wind.
Genau wie bei Liams erstem Streifzug standen vor der Treppe, die zu der zweiflügeligen Tür hinaufführte, zwei Spiegelmänner.
Er hielt den Atem an und huschte zwischen den beiden statuengleichen Wachen hindurch, die Treppe hinauf. Vivana folgte ihm.
Vorsichtig öffnete Liam einen Türflügel. Zu seiner Erleichterung waren die Angeln so gut geölt, dass sie nicht das kleinste Geräusch verursachten. Sie schlüpften hinein und schlossen die Tür hinter sich.
Blaues Licht erfüllte den Kuppelsaal.
Trotz seines Unbehagens verspürte Liam für einen Moment ein Gefühl ungeheuren Triumphs. So weit war er noch nie gekommen! Jetzt musste es ihnen nur noch gelingen, in Lady Sarkas Gemächer einzudringen und das Buch zu finden. Plötzlich durchströmte ihn die Gewissheit, dass sie es schaffen würden.
Leise stiegen sie die Stufen zur Empore hinauf, wo sich die einzige Tür befand, unbemerkt von den Spiegelmännern, die auf der Galerie Wache hielten.
Liam vergewisserte sich, dass die Maskierten von ihrer Position aus die Tür nicht sehen konnten. Er griff nach dem silbernen
Knauf - und hielt inne, als er ein seltsames Zeichen bemerkte, das in den Türsturz eingekerbt war.
Vivana berührte ihn am Arm und machte ihn mit einer Geste darauf aufmerksam, dass einer der Spiegelmänner seinen Posten verlassen hatte und sich lautlos wie ein Schatten näherte. Liams Herz setzte einen Schlag aus, als er dachte, der Maskierte habe sie bemerkt. Doch nichts deutete darauf hin, dass das Geschöpf sie sehen konnte; offenbar machte es nur einen routinemäßigen Rundgang. Liam wartete, bis ein Pfeiler dem Spiegelmann die Sicht versperrte, und öffnete die Tür.
Sie betraten einen Raum mit holzgetäfelten Wänden. Regale bildeten verwinkelte Gänge, in denen tiefe Schatten herrschten. Irgendwo verströmte eine Lampe trübes Licht. Es roch nach Staub, Kerzentalg und altem Pergament.
Es schien niemand da zu sein. Liam atmete auf und sah sich um. Die Regale enthielten Bücher, Unmengen davon. Die meisten hatten brüchige Ledereinbände, versehen mit unverständlichen Schriftzeichen. Liam vermutete, dass es sich um alchymistische Aufzeichnungen handelte.
Irgendwo hier musste das Gelbe Buch von Yaro D’ar sein.
»Wir brauchen Licht«, flüsterte Vivana.
Die Bibliothek bestand aus mehreren Kammern, die man über offene Durchgänge erreichte. Sie gingen zur Lampe, die auf einem Tisch stand, inmitten von aufgeschlagenen Büchern. Dort lag außerdem eine Kette mit einem Silberanhänger in Form eines fünfeckigen Sterns.
»Sieh mal«, sagte Liam. »Dasselbe Zeichen wie über der Tür.«
»Ein Drudenfuß«, sagte Vivana. »Ein altes Bannsymbol. Es wird benutzt, um Schattenwesen abzuwehren.«
»Wieso hat es die Lady über der Tür angebracht?«
»Keine Ahnung.«
Liam sah sich die Schriftstücke auf dem Tisch an. Das Gelbe Buch war nicht darunter. Die meisten Bücher und Pergamentrollen waren in fremden Sprachen verfasst. Das wenige, das er lesen konnte, schien von Träumen zu handeln, von Methoden, Träume zu beeinflussen, und von den Geheimnissen des Schlafs. Eine alte Abbildung stellte eine gewaltige Stadt in ewigem Zwielicht dar - Die Stadt der Seelen stand darunter. Liam fand das Bild verstörend und wandte den Blick ab.
»Am besten teilen wir uns auf«, sagte er. »Du suchst da drüben und ich …«
Er verstummte, als ein Laut erklang: das Rasseln von Ketten, dann ein seltsames Schmatzen.
Liam stockte der Atem. Er hatte dieses Geräusch schon einmal gehört und würde es nie mehr vergessen. Das
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