Pandaemonia 01 - Der letzte Traumwanderer
Liam unverhofft einen Freund gefunden … und hätte es in seiner Verzweiflung und Trauer beinahe nicht bemerkt.
Kurz nach der zerstörten Brücke verzweigte sich der Tunnel. Abwasserkanäle und begehbare Wasserleitungen kreuzten den Gang, vergitterte Treppen und Schächte führten in die tiefer gelegenen Katakomben hinab. Jackon musste sich bei der Suche nach einem Ausgang ganz auf seinen Instinkt verlassen, denn in diesem Teil der städtischen Unterwelt war er noch nie gewesen. Sorgen bereiteten ihm außerdem die Schlammtaucher, die eine stillgelegte Zisterne in der Nähe des Flusses bewohnten und sich in den Kloaken unter der Altstadt herumtrieben. Wenn er ihnen begegnete, erkannten sie ihn womöglich als einen der Ihren, was Probleme nach sich ziehen konnte. Schließlich hielt Liam ihn für einen ehemaligen Plantagenarbeiter - und das sollte auch so bleiben.
Doch allen Schwierigkeiten und Gefahren zum Trotz fühlte er sich hier unten auf seltsame Weise wohl. Die Kanäle waren in gewisser Weise immer noch seine Heimat. Nicht, dass er sich hierher zurücksehnte - er hatte den Palast mit seinem Komfort zu schätzen gelernt und wollte nie mehr darauf verzichten. Das änderte jedoch nichts daran, dass ihn die Welt Lady Sarkas und ihrer Diener nach wie vor verwirrte und einschüchterte und ihm stets das Gefühl gab, alles falsch zu machen. In den Kanälen dagegen wusste er, wie man sich verhielt, er kannte ihre Tücken und Gesetzmäßigkeiten. Hier war er kein unbeholfener Tölpel, sondern ein gewitzter Überlebenskünstler, und er genoss es.
Sie blieben in den Haupttunneln, um sich nicht im Gewirr der Gänge zu verlaufen. Wenig später hörten sie gedämpftes Wummern und Stampfen, das mit jedem Schritt näher klang. Offenbar befanden sie sich am Rande des Kessels, dessen Maschinen die Erde zum Vibieren brachten.
Jackon entdeckte ein rotes Glühen, das aus einem Nebengang drang, und machte Liam darauf aufmerksam.
»Ein Ausgang?«, fragte der Blonde hoffnungsvoll.
»Sehen wir es uns an.«
Der Gang, durch den sie gehen mussten, war schmal, niedrig und unglaublich schmutzig. Wasser tropfte von der Decke, sodass sie schon nach ein paar Schritten von oben bis unten mit Rost und Schlamm bedeckt waren. An den Wänden klebte altes Öl. Jackon musste aufpassen, es nicht versehentlich mit seiner Fackel anzuzünden.
Das Glühen kam aus einem engen Deckenschacht. Eiserne Trittstufen führten darin empor. Oben konnte er ein Gitter ausmachen, durch das lautes Hämmern und Zischen klang. »Anscheinend führt er zu einer Manufaktur.«
»Worauf wartest du noch? Klettern wir rauf.«
Jackon hätte lieber nach einem anderen Ausgang gesucht, wo sie den Tunnel unbeobachtet verlassen konnten. Schließlich mochten die meisten Leute die Bewohner der Unterwelt nicht sonderlich oder hassten sie sogar. Aber Liam fror so sehr, dass er zitterte. Jackon konnte nicht von ihm verlangen, noch länger durch die Finsternis zu wandern.
Er warf die Fackel weg, die durch das tröpfelnde Wasser fast erloschen war, und kletterte die Sprossen hinauf.
Auf halbem Weg fragte er sich, ob dieser Schacht wirklich für Menschen angelegt worden war. Selbst ihm fiel es schwer, sich hindurchzuzwängen, und er war nicht gerade ein Hüne. Zu allem Überfluss waren die Wände von Schmieröl, Rost und Schlimmerem bedeckt. Als er das Gitter wegschob und hinauskletterte,
gab es kaum noch eine Stelle seines Körpers, die nicht schmutzig war.
Er fand sich in einer Halle wieder, die in rotem Licht erglühte. Geschmolzenes Metall quoll aus einem Hochofen in verschiedene Gussformen. Arbeiter schoben glühende Barren in Maschinen aus Kettenzügen, Zahnrädern und stampfenden Kolben, die den Stahl pressten und schnitten und dabei fauchend goldene Aetherwolken ausstießen.
Hastig half er Liam aus dem Schacht. Gerade als sie zum Ausgang der Schmiede huschen wollten, bemerkten die Arbeiter sie.
Drei der Männer rissen angstvoll die Augen auf, ließen ihr Werkzeug fallen und ergriffen die Flucht. Der vierte starrte die beiden Eindringlinge voller Abscheu an. Mit einem Fluch auf den Lippen griff er nach einem Schürhaken und kam auf sie zu.
Obwohl Jackon mit solch einer Reaktion gerechnet hatte, war er so entsetzt, dass er nichts anderes tun konnte, als den wütenden Arbeiter anzuglotzen. Der Mann ließ den Schürhaken kreisen und hätte ihn mit voller Wucht am Kopf getroffen, wenn Liam nicht im letzten Moment nach vorne geschnellt wäre und ihm die Beine weggetreten
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