Pandaemonia 01 - Der letzte Traumwanderer
aufstieg.
»Das Gelbe Buch von Yaro D’ar!«, stieß er hervor.
»Zumindest weißt du jetzt, wie es aussieht«, erwiderte Quindal.
Liam blätterte in den Seiten. Überall Symbole und handschriftliche, unleserliche Zeilen. »Steht darin noch mehr?«
»Nein. Nichts.«
»Aber das ergibt keinen Sinn. Warum bildet man ein Buch ab, ohne zu erklären, worum es sich handelt?«
»Hier, siehst du das? Es wurden Seiten herausgerissen. Übrigens nicht nur aus diesem Buch - aus fast allen alten Folianten in der Bibliothek von Bradost.« Die Zahnräder der mechanischen Hand surrten, als der Erfinder sie auf die vergilbten Seiten presste. »Jemand gibt sich offenbar große Mühe zu verschleiern, was es mit dem Gelben Buch von Yaro D’ar auf sich hat.«
Vivana hatte ihr Bett zur Seite geschoben und kauerte in der Zimmerecke. Dort, eine Armlänge über dem Boden und normalerweise hinter dem Kopfteil des Bettes versteckt, befand sich ein Loch in der Wand. Sie hatte es vor zwei Jahren gemacht, nachdem sie zufällig herausgefunden hatte, dass einer der Lichtschächte des Kellers an ihrem Zimmer vorbeiführte. Mit ihrem Brieföffner hatte sie den Putz abgeschabt und den Mörtel aus den Fugen gekratzt, bis sich ein Stein herausnehmen ließ und man einen Blick in den Schacht werfen konnte. Eine langwierige, mühsame Arbeit. Doch Vivana konnte hartnäckig sein, wenn es darauf ankam.
Ihr Vater wusste nichts von dem Loch.
Und er würde nie erfahren, dass Vivana, wenn sie an der Öffnung lauschte und ganz leise war, jedes Wort hören konnte, das im Keller gesprochen wurde.
19
Homunculi
E hrfürchtig betrachtete Jackon die Heckflosse, die so hoch wie ein mehrstöckiges Haus vor ihm aufragte. Ein Höhenruder war zersplittert, im Rumpf klafften unzählige kleine Löcher und gaben den Blick auf das eiserne Gerippe im Innern frei. Eine abgebrochene Motorgondel hatte die Erde aufgerissen und lag mit verbogenen Propellerblättern am Ende einer zwanzig Fuß langen Furche. Goldener Aetherdampf strömte aus der Blechhülse.
Es war eine Sache, ein Luftschiff hoch am Himmel zu bestaunen, aber eine völlig andere, unmittelbar neben einem dieser Ungetüme zu stehen. Jackon streckte die Hand aus und berührte die silbrige Außenhaut. Glatt fühlte sie sich an, metallisch und kühl.
Er trat einige Schritte zurück und betrachtete das Bild der Zerstörung.
Das Schiff war beim Absturz in der Mitte eingeknickt und hatte eine breite Schneise in die Palastmauer gerissen. Der Bug hatte sich in ein Stadthaus gebohrt und das Gebäude zum Einsturz gebracht. Der hintere Teil lag im Garten, umgeben von entwurzelten Bäumen. Corvas’ Krähen saßen auf der Hülle wie Aasfresser auf einem Kadaver, von den Lecks in den Traggaszellen stiegen Aetherschwaden zum Nachthimmel auf. Hunderte von Menschen waren auf der Straße zusammengeströmt, Laternen und Karbidlampen in den Händen. Manche halfen
den Bewohnern des eingestürzten Hauses, doch die meisten standen einfach nur da, in sicherer Entfernung von den Spiegelmännern, die das Luftschiff umstellten.
Aeronauten in ledernen Schutzanzügen, die meisten verletzt, kletterten aus der zerschmetterten Gondel. Die ersten beiden wehrten sich, als die Spiegelmänner sie ergreifen wollten. Die Maskierten umringten sie und hieben mit ihren Rabenschnäbeln auf sie ein; Sekunden später lagen sie tot auf dem Kopfsteinpflaster. Die anderen Besatzungsmitglieder ergaben sich daraufhin und wurden zum Palast getrieben.
Jackon betrachtete die düsteren Gesichter der Männer und Frauen, die an ihm vorbeimarschierten, die Hände hinter den Köpfen verschränkt. Sie waren Attentäter und Mörder, die nichts als den Tod verdient hatten. Dennoch verspürte er weder Hass noch den Wunsch nach Rache. Das Entsetzen der vergangenen Stunde saß noch zu tief und ließ keine andere Empfindung zu.
Lady Sarka ist tot.
Er hatte gegen diesen Gedanken angekämpft, hatte versucht, sich einzureden, dass er sich irrte, doch allmählich wurde ihm klar, dass er sich etwas vormachte. Er hatte gesehen, wie der Attentäter auf die Lady einstach, wie sie aus einem halben Dutzend Wunden blutete, als Umbra sie fortbrachte. Niemand überlebte solche Verletzungen. Nicht einmal die mächtige, engelsgleiche, Ehrfurcht gebietende Herrscherin von Bradost.
Tot.
Die Heftigkeit seiner Trauer überraschte Jackon. Was wurde jetzt aus ihm? Lady Sarka hatte ihn aus dem Elend der Kanäle geholt und ihm ein besseres Leben geschenkt. Ohne sie war er wieder
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