Pandaemonia 02 - Die Stadt der Seelen
schob ihm eine zusammengerollte Decke unter den Kopf und gab ihm etwas zu trinken. Bald sind wir zuhause , dachte sie und strich ihm eine Haarsträhne aus der Stirn. Wenn er nur endlich aufwachen würde …
»Können wir irgendwie herausfinden, wann sich das Tor das nächste Mal öffnet?«, fragte sie Lucien.
»Ich glaube nicht, dass wir lange warten müssen«, erwiderte
der Alb. »Als wir nach unserer Ankunft hier gelagert haben, habe ich gesehen, dass es sich zweimal kurz hintereinander geöffnet und wieder geschlossen hat. Auf der Pandæmonium-Seite scheint es sich häufiger zu öffnen, dafür immer nur für ein paar Minuten. Vermutlich weil die Zeit hier anders verläuft …« Er unterbrach sich, als Tante Livia zu ihnen trat.
»Kann ich dich kurz sprechen?«
Lucien und die Wahrsagerin entfernten sich ein paar Schritte von der Gruppe. Livia war die einzige Manusch, die dem Alb unbefangen begegnete – die anderen empfanden nach wie vor extreme Ehrfurcht in seiner Gegenwart. Die beiden unterhielten sich leise und kehrten dann mit ernsten Gesichtern zur Gruppe zurück.
»Lucien und ich sind auf ein Problem gestoßen, das wir nicht bedacht haben«, begann Tante Livia. »Es betrifft das Tor. Ihr habt euch wahrscheinlich schon gefragt, wieso die Dämonen es nicht benutzen, um in unsere Welt einzudringen. Wir glauben, es liegt am Licht. Da, wo sich das Tor befindet, ist die Mauer zwar durchlässig, aber das Licht ist auch hier noch stark genug, dass es ihnen schadet, wenn sie damit in Berührung kommen.«
»Worauf willst du hinaus?«, fragte Madalin.
Luciens Blick fand Liam – und Vivana begriff. Sie schloss für einen Moment die Augen. Nein. »Liam kann das Tor nicht durchqueren«, sagte sie leise. »Das meint ihr doch, nicht wahr? Solange der Dämon in ihm steckt, wird das Licht ihn töten.«
Tante Livia blickte sie voller Mitgefühl an. »Das ist nicht gesagt. Liam ist stark – vermutlich wird er es überstehen. Aber völlig ausschließen können wir es nicht. Dafür wissen wir zu wenig über das Tor.«
Vivana verspürte plötzlich den Drang, aufzustehen und herumzulaufen. Sie war durch das halbe Pandæmonium gewandert und hatte gegen Dämonen und verdammte Seelen gekämpft,
nur um am Ende an einer haarsträubenden Verkettung der Umstände zu scheitern. Sie griff sich an die Stirn. Ihr Kopf schien zu glühen. Das kann einfach nicht sein …
Die Gefährten schwiegen betreten. Vivanas Vater murmelte einen Fluch.
»Kannst du den Dämon nicht gleich hier austreiben?«, fragte Madalin.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich es überhaupt kann«, erwiderte Livia. »Ich habe keine Erfahrung mit dem Ritual. Wenn ich es versuche, dann nur in Bradost. Auf keinen Fall hier.«
Alle Augen ruhten auf Vivana. Energisch wischte sie sich mit dem Ärmel die Tränen ab. »Das Licht ist also schwächer, ja? Wie schwach?«
»Schwer zu sagen«, antwortete Lucien. »Vielleicht so wie die Blitze, die du mit dem Zauber beschworen hast.«
»Das nennst du schwach?«, meinte Vivanas Vater.
»Jedenfalls haben sie Liam nicht getötet.«
»Außerdem sickert ständig Böses durch das Tor«, sagte Tante Livia. »Das ist schlecht für uns, aber gut für den Dämon. Vielleicht hilft es ihm, halbwegs unbeschadet durchzukommen. «
»Seht mal.« Nedjo deutete auf das Tor. »Ich glaube, es öffnet sich.«
Der Wirbel in der Lichtmauer wurde größer und wölbte sich nach innen, wie die Fleischmembran in den Gewölben der Alten Arena.
»Beeilt euch«, forderte Lucien die Gefährten auf. »Es wird nicht lange offen bleiben.«
Vivana kaute auf ihrer Unterlippe. Sie spielten mit Liams Leben Roulette, wenn sie mit ihm durch das Tor gingen. Er konnte sterben – oder auch nicht. Genauso gut hätten sie eine Münze werfen können. »Wartet«, sagte sie. »Lasst mich nachdenken. Es muss doch noch einen anderen Weg geben.«
»Ich fürchte, dafür haben wir keine Zeit.« Madalin machte sie auf den Hügel aufmerksam, wo sie die Dämonen gesehen hatten. In der Zwischenzeit hatten die Kreaturen das Interesse an der Lichtmauer verloren und kamen näher. Es waren mindestens zehn.
Vivanas Gedanken überschlugen sich. Wie konnte sie Liam vor dem Licht schützen? Ihr fiel nichts ein – sie wusste einfach zu wenig über das Licht und das Tor und Dämonen.
Ihre Gefährten warteten offenbar darauf, dass sie eine Entscheidung traf – als ob es irgendetwas zu entscheiden gäbe. Als ob es ihr Recht wäre, über Liams Leben zu bestimmen. »Wir gehen durch
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