Pandaemonia 02 - Die Stadt der Seelen
wie das Pochen eines gewaltigen Herzens in der Dunkelheit hinter ihren Augenlidern. Doch es war noch nicht genug.
Sie dachte an Lucien, der einst eine menschliche Frau geliebt hatte und ohne einen Moment des Zögerns mit ihr ins Pandæmonium hinabgestiegen war. Seine Schläue und seine Tapferkeit kannten keine Grenzen, und niemals ließ er sich entmutigen, mochten die Schwierigkeiten und Hindernisse auf ihrem Weg noch so groß sein.
Sie dachte an Tante Livia, die Liam das javva geschenkt hatte, obwohl sie damit ein uraltes Geheimnis der Manusch preisgab. Wie oft hatte die Wahrsagerin Vivana getröstet, wenn sie am Starrsinn ihres Vaters verzweifelt war und nicht wusste, wohin sie gehörte. Die Manusch opferte sich für ihre Familie auf, ohne etwas dafür zu erwarten, und fand trotzdem noch die Zeit, sich um die Kranken der anderen Manuschsippen zu kümmern und das alte Wissen ihres Volkes zu hüten.
Und schließlich dachte sie an ihren Vater. Die vergangenen Jahre waren nicht einfach gewesen. Beinahe täglich hatten sie miteinander gestritten, waren sich immer fremder geworden, bis sie schließlich geglaubt hatte, ihr Vater sei durch und durch verbittert und interessiere sich für nichts und niemanden, außer für seine Arbeit. Die letzten Tage hatten jedoch bewirkt,
dass sie ihn mit anderen Augen sah. Sie wusste nun, dass der Grund für sein Verhalten Angst war – die Angst, sie zu verlieren, so wie er einst Vivanas Mutter verloren hatte. Trotz allem liebte er sie, und wenngleich er seine Liebe auf eine unbeholfene und manchmal verquere Art zeigte, gab es doch keinen Zweifel daran, dass sie ihm mehr bedeutete als sonst etwas auf der Welt. Und er hatte bewiesen, dass er gewaltigen Mut besaß: nicht weil er bereitwillig gegen Dämonen kämpfte, sondern weil er den Willen aufbrachte, sich zu ändern. Vivana wusste, wie schwer ihm das fiel.
Die Hitze erfüllte ihren Körper von Kopf bis Fuß, floss durch jede Faser ihres Leibes, durch ihre Finger, ihre Haut, ihre Organe. Vivana glaubte, bersten zu müssen.
Sie öffnete die Augen. Die Schriftzeichen glühten, als wären sie mit Feuer geschrieben, und erfüllten die Kluft mit weißem Glosen.
Die Dämonen begannen zu brüllen. Mit Nachach an der Spitze stürmten sie den Berghang hinauf, drängten sich zu einer Masse aus Leibern zusammen, trampelten einander tot und stürmten dennoch weiter, der Schlucht entgegen.
Lucien schien zu wissen, was nun kam. Er warf sich auf den Boden und vergrub seinen Kopf in den Armen.
Vivana gab die Hitze frei. Licht schoss aus ihren Fingerspitzen, aus ihren Augen, brach durch ihre Haut, schien sie von innen heraus zu verschlingen. Sie hörte Gebrüll, Schreie voller Panik und Entsetzen, roch verbranntes Fleisch – und dann war ihr, als würde sie fallen, immer weiter fallen, bis sie schließlich aufschlug und die Besinnung verlor.
Irgendwann kam sie wieder zu sich. Jemand ächzte. Sie blinzelte und sah Tante Livia, die auf dem Boden lag und sich bewegte. Von der Hitze war nichts mehr zu spüren. Sie betrachtete ihre Hand, die aussah wie immer. Keine Verbrennungen, keine Spuren dessen, was gerade geschehen war.
Mühsam stand sie auf. Die Schriftzeichen hatten sich ins Gestein eingebrannt und strahlten Wärme ab. Ihre Gefährten lagen hinter der Geröllbarriere, als hätte eine Sturmböe sie von den Füßen gerissen. Stöhnend rappelten sie sich auf. Auch Lucien wirkte reichlich benommen, obwohl er seine empfindlichen Augen rechtzeitig vor der strahlenden Helligkeit geschützt hatte. Lediglich Ruac hatte das Licht nichts anhaben können.
Vivana eilte zu ihrem Vater und half ihm auf die Füße. Er war verwirrt, aber unversehrt. »Bist du in Ordnung?«
Er brachte ein Nicken zu Stande und wandte sich dann zum Berghang um. Der Anblick, der sich ihnen dort bot, war grauenhaft. Dutzende von Dämonen lagen auf den Felsen, verbrannt und tot. Die wenigen Überlebenden, darunter Nachach, rannten den Hang hinab und hasteten in heilloser Flucht durch das Tal.
»Wir haben gesiegt!«, rief Madalin, und seine Brüder versammelten sich um ihn.
Tante Livia kam zu Vivana und lächelte. »Ich wusste, du würdest es schaffen.« Im nächsten Moment hatten die Manusch sie hochgehoben, warfen sie unter Freudenschreien in die Luft und fingen sie wieder auf. Vivana war immer noch so erschöpft, dass sie gar nicht wusste, wie ihr geschah.
Plötzlich fiel ihr Blick auf Liam. Er kauerte neben dem Felsen, wo sie ihn vor dem Kampf festgebunden hatten, und
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