Pandaemonia 02 - Die Stadt der Seelen
Seelen angegriffen. Schmerzensschreie hallten durch das Tal. Die Untoten gaben sich jedoch damit zufrieden, ihre Opfer nur einmal zu berühren. Dann zogen sie sich zurück, als wäre ihre Gier befriedigt.
Die Gefährten flohen in die Hügel. Als sie feststellten, dass die Totenseelen keine Anstalten machten, ihnen zu folgen, ließen sie ihr Gepäck fallen und sanken erschöpft zu Boden. Vivana und Jovan legten Liam hin und lehnten sich schwer atmend gegen die Felsen. Die Schmerzen verschwanden allmählich, doch die unnatürliche Kälte saß Vivana tief in den Gliedern und ließ auch dann nicht nach, als sie sich in eine dicke Decke hüllte. Sie verspürte eine Leere in ihrem Innern, eine tief greifende Hoffnungslosigkeit. Das Geistwesen hatte ihr nicht nur die Körperwärme geraubt, sondern auch einen Teil ihrer Vitalität, ihres Lebenswillens. Es fühlte sich an, als klaffe in ihrer Seele ein Loch.
Ihren Gefährten erging es ähnlich. Niemand sprach; der Fackelschein lag auf maskenhaften Gesichtern. Bedrückt zog Vivana die Decke enger um die Schultern und starrte ins Nichts.
Lucien war der Erste, der sich von dem Angriff erholte. Er stieg auf die Hügelkuppe und blickte zur Lichtmauer, die inzwischen nah genug war, dass man sie trotz des Dunstes deutlich erkennen konnte.
»Kommt her«, sagte er nach einer Weile. »Das solltet ihr euch ansehen.«
Vivana ging zu ihm, gefolgt von den anderen. Sie sah auf den ersten Blick, was der Alb meinte: Der Grenzwall des Pandæmoniums hatte sich seit ihrer Ankunft vor gut einer Woche verändert. Das Licht strahlte nicht mehr weiß und blendend – es flackerte und wies hier und da dunkle Stellen auf.
»Was ist das?«, fragte ihr Vater.
»Sieht aus, als bekäme die Mauer Risse«, antwortete der Alb.
»Risse?« Tante Livia trat neben ihn. »Unmöglich. Die Mauern des Pandæmoniums bestehen seit Jahrtausenden. Nichts kann ihnen etwas anhaben.«
»Seht mal da«, sagte Nedjo und deutete auf einen Hügel anderthalb oder zwei Meilen entfernt. Der Dunst hatte sich gelichtet, und Vivana erblickte einige winzige Gestalten, die sich auf der Anhöhe aufhielten. Zweifellos Dämonen. Es sah ganz so aus, als untersuchten sie das Flackern der Lichtmauer.
»Den Dämonen ist es also auch schon aufgefallen«, bemerkte Lucien mit einem seltsamen Klang in der Stimme.
Eine erschreckende Vorstellung stieg in Vivana auf: Noch waren die Lichtmauern stabil genug. Aber wenn sich die Risse und Schwachstellen ausweiteten, konnten bald Dämonen hindurchschlüpfen und ins Diesseits eindringen – in ihre Welt.
Sie schob diesen Gedanken von sich. Nein. So ein Szenario war nicht nur unrealistisch, es war blanker Unsinn. Das Pandæmonium gab es seit Äonen. Warum sollten seine Mauern auf einmal zusammenbrechen? Dennoch blieb eine ungute Ahnung.
»Hat Seth die Risse gemeint, als er gesagt hat, die Zukunft gehört den Dämonen?«, wandte sie sich an Lucien.
»Wer weiß. Jedenfalls wird mir jetzt einiges klarer.«
Sie blickte ihn fragend an.
»Vor ein paar Wochen hat Aziel Seth ins Pandæmonium geschickt, um Nachforschungen anzustellen«, erklärte der Alb.
»Er wollte mir nicht sagen, warum. Vielleicht hat er geahnt, dass irgendetwas geschieht.«
»Was hat Seth herausgefunden?«
»Offenbar etwas, das ihn dazu gebracht hat, Aziel den Laufpass zu geben und sich Nachach anzuschließen.« Lucien betrachtete die Lichtmauer mit zusammengekniffenen Augen. »Wie es aussieht, muss ich mich mit Aziel unterhalten, wenn wir zuhause sind.«
»Aber ihr seid doch Feinde.«
»Ja, das dürfte die Sache interessant machen. Jetzt lass uns gehen. Es ist noch ein weiter Weg.«
Wenig später wanderten die Gefährten durch die Hügel. Glücklicherweise verlief der Marsch ereignislos. Die Dämonen auf der Anhöhe beachteten sie nicht, falls die Kreaturen sie überhaupt bemerkt hatten. Auch die verdammten Seelen ließen sie in Ruhe. Sie hatten ihren Hunger gestillt und sich in den Dunst zurückgezogen.
Schließlich erreichten sie das Tor. Vivana betrachtete den dunklen Wirbel in der Lichtmauer, und es kam ihr vor, als wäre seit ihrer Ankunft im Pandæmonium eine Ewigkeit vergangen, so viel war seitdem geschehen. Voller Unbehagen dachte sie an das Durchschreiten des Tors, an die endlosen Sekunden in der Dunkelheit und die Verzweiflung, die sie anschließend gepackt hatte. Lucien hatte sie vorgewarnt, dass der Rückweg genauso unangenehm werden würde.
Madalin und ihr Vater legten Liam behutsam auf den Boden. Vivana
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