Pandaemonia 02 - Die Stadt der Seelen
Ihr Schlaf war jedenfalls nicht so erholsam gewesen, wie er nach vierzehn Stunden hätte sein müssen. Aber immer noch erholsamer als im Pandæmonium, sodass sie sich einigermaßen ausgeruht fühlte.
Sie setzte sich. »Habt ihr es auch gemerkt? Du weißt schon …« Sie suchte nach einem passenden Wort.
»Die Traumstörungen? Ich nicht. Madalin schon«, antwortete Livia. »Nedjo und Sandor sind sich nicht sicher. Dass man nach allem, was passiert ist, seltsame Träume hat, ist schließlich kein Wunder. Und du?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht. Komisch, dass es nicht jeden betrifft. «
Ihre Tante half Dijana, Butter auf ein Brot zu schmieren. »Abwarten. Nach einer Nacht ist das schwer einzuschätzen.«
Schweigend aß Vivana ihr Frühstück. Was geschah mit einer Welt, in der niemand mehr richtig träumte? Wenn Lucien Recht behielt, würde dieser Zustand bald eintreten – und niemand konnte etwas dagegen tun. Gewöhnte man sich irgendwann daran? Oder würden immer mehr Menschen wahnsinnig werden, so wie der arme alte Mica? Sie versuchte, sich vorzustellen, was dann geschehen würde, aber es gelang ihr einfach nicht. Die Gefahr war zu abstrakt, zu schwer zu fassen – was sie bedrohlicher machte als Dämonen und Spiegelmänner.
Die Zuversicht, die sie gestern Abend verspürt hatte, war jedenfalls restlos verflogen.
»Wo ist mein Vater?«, fragte sie.
»Er wird gleich kommen, nehme ich an«, antwortete Tante Livia.
»Ist er gestern Abend bei dir gewesen?«
»Ja, ist er.«
»Und?«
»Nun, wir haben geredet. Lange.«
»Also habt ihr endlich Frieden geschlossen.«
»Ein Anfang ist gemacht, ja.«
»Ein Anfang?«
»Zwischen uns ist viel vorgefallen, Vivana. Du kannst nicht erwarten, dass wir das von heute auf morgen aus der Welt schaffen. «
»Worüber habt ihr denn geredet?«
»Vor allem über deine Mutter.«
Das hatte Vivana insgeheim erhofft. Tante Livia warf ihrem Vater seit Jahren vor, er wäre verantwortlich für den frühen Tod ihrer Mutter – Livias Schwester –, was die Hauptursache dafür gewesen war, dass sich ihr Verhältnis stetig verschlechtert hatte. »Was hat er gesagt?«
»Ich bin sicher, er möchte nicht, dass ich das erzähle.«
»Sag wenigstens, ob du ihretwegen immer noch wütend auf ihn bist.«
Zögernd antwortete Livia: »Ich weiß es nicht. Vielleicht habe ich ihm unrecht getan. Deine Mutter hatte immer eine Wahl. Sie hätte ihn verlassen und zu uns kommen können. Aber sie wollte in Bradost bleiben, bei ihm. Er hat sie zu nichts gezwungen.«
»Was damals passiert ist, tut ihm leid. Er hat sie wirklich geliebt.«
»Ja«, meinte die Wahrsagerin. »Ja, das glaube ich auch.«
Sie konnten das Gespräch nicht fortsetzen, denn in diesem Moment kam ihr Vater und setzte sich zu ihnen. Unauffällig beobachtete Vivana ihn und Livia. Die unterschwelligen Spannungen zwischen ihnen, die Ursache so vieler Auseinandersetzungen, waren verschwunden. Wo gegenseitige Abneigung gewesen war, herrschte nun Respekt. Livia irrte sich: Das war mehr als ein Anfang, viel mehr. Noch vor zwei Wochen hätte Vivana niemals zu hoffen gewagt, dass die beiden einmal an einem Tisch sitzen könnten, ohne zu streiten. Das half ihnen vielleicht nicht gegen die Gefahren, die vor ihnen lagen – ganz gewiss aber machte es Vivanas Leben ein wenig einfacher.
Nach und nach tauchten auch die anderen auf. Liam war der Letzte, der am Frühstückstisch erschien. Er erzählte, Albträume hätten ihn die ganze Nacht geplagt. Trotzdem wirkte er wesentlich frischer und kräftiger als gestern und fühlte sich im Stande, mit zu Vorod Khoroj zu gehen.
»Wo sind Bajo und seine Leute?«, erkundigte er sich.
»Außer Haus, alle außer Esmeralda und den Kindern«, antwortete Tante Livia. »Bajo ist es lieber, wenn er nicht allzu viel über unsere Pläne weiß. Und mir auch. Ich möchte ihn da nicht hineinziehen.«
Unsere Pläne … Diese beiden Worte erinnerten Vivana daran, dass sie im Begriff waren, etwas sehr Gefährliches zu tun. Das Gelbe Buch von Yaro D’ar hatte Liams Vater das Leben gekostet – und er hatte nur danach gesucht . Sie aber hatten es gestohlen und versuchten nun, es zu entziffern. Es gab nicht den geringsten Zweifel, was mit ihnen geschehen würde, wenn man ihnen auf die Schliche kam.
»Wo wohnt dieser Vorod Khoroj?«, wollte Madalin wissen.
»Sein Haus befindet sich irgendwo in der Rodismündung«, antwortete Vivanas Vater.
Liam runzelte die Stirn. » In der Mündung?«
»Wenn du es siehst, wirst
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