Pandaemonia 02 - Die Stadt der Seelen
glaube ich nicht. Jackon war überglücklich, mich zu sehen. Er hat mir das nicht vorgespielt.«
»Und wieso taucht er ausgerechnet jetzt auf, während Lady Sarka uns sucht? Wenn ihm so viel an dir liegt, warum hat er deine Träume nicht schon vor Wochen besucht?«
»Damit tust du dem Jungen unrecht, Nestor«, sagte Livia. »Liam hat nicht geträumt, während er im Pandæmonium war. Jackon konnte ihn gar nicht besuchen. Ich finde, Liam sollte zu dem Treffen gehen. Er sollte sich wenigstens anhören, was
Jackon zu sagen hat. Wenn er ihn überzeugen kann, sich uns anzuschließen – umso besser. Wir sollten nicht vergessen, dass wir vermutlich auf seine Hilfe angewiesen sind.«
»Trotzdem ist an Nestors Einwand was dran«, meinte Lucien. »Ganz ungefährlich ist die Sache nicht. Das ist nicht mehr der Jackon, den du kennst, Liam. Du kannst ihn nicht einschätzen. Lass einen von uns mitkommen. Nur zur Sicherheit. «
»Ich komme mit«, sagte Vivana.
»Nein«, widersprach ihr Vater entschieden. »Du bleibst hier.«
Sie setzte zu einer ärgerlichen Erwiderung an, doch Lucien kam ihr zuvor: »Es ist besser, wenn ich ihn begleite. Ich kann Liam notfalls beschützen, falls es Ärger gibt.«
»Ich weiß nicht«, sagte Liam. »Jackon geht davon aus, dass ich allein komme. Vielleicht fühlt er sich hintergangen, wenn ich jemanden mitbringe.«
»Ich sorge schon dafür, dass er mich nicht sieht.«
Liam dachte darüber nach. Luciens Vorschlag klang vernünftig. »Also gut. Aber wir sollten gleich losgehen. Sonst komme ich zu spät.«
Sie schlüpften in ihre Kapuzenumhänge. Lucien legte außerdem den Gürtel mit seinen Messern an.
»Sei vorsichtig, ja?«, flüsterte Vivana und drückte Liams Hand.
Godfrey ging mit ihnen zum Portal. »Kennst du den Weg nach oben?«
»Ja«, antwortete Lucien.
Der Aethermann legte den Hebel um, und das Tor öffnete sich zischend wie die Schleuse eines gewaltigen Stauwerks.
38
Liam und Jackon
L iam und Lucien verließen die Kanäle am Rand des Kessels, wo der Tunnel in ein altes Abwassersammelbecken mündete. In der Nacht hatte es wieder geregnet, und zwischen den Haufen aus Schutt bildete das Wasser rostige Pfützen. Zwei zerlumpte Schlammtaucher wühlten im Müll und verschwanden in einem der mannshohen Rohre, als ein Arbeiter, der zufällig des Weges kam, fluchend einen Stein nach ihnen warf.
Lucien machte sich unauffällig, bevor sie ins Freie traten. Liam eilte mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze die Treppe hinauf und stapfte durch den grauen Morgen.
Rauch und goldener Aetherdampf hingen zwischen den Bleidächern der Manufakturen. Aus den Toren und Hinterhöfen drangen Hämmern, Gebrüll und das Stampfen der Maschinen. Eine gereizte Stimmung lag in der Luft. Viele Arbeiter sahen aus, als hätten sie seit Tagen nicht geschlafen. Zwei Mechaniker mit geröteten Augen stritten lautstark und begannen, sich auf offener Straße zu prügeln, bis ein bulliger Vorarbeiter sie mit Gewalt trennte und in die Werkhalle zurückscheuchte. Liam wünschte, er könnte sich wie Lucien unauffällig machen. Es war noch nie angenehm gewesen, sich im Kessel aufzuhalten – jetzt aber war es gefährlich.
Er hielt sich von den belebten Straßen fern und gelangte kurz darauf zu der Gießerei. Zu seiner Überraschung waren Fenster und Tore des Gebäudes vernagelt. Offenbar hatte man
die Fabrik vor Kurzem stillgelegt. Liam ging zu der Seitengasse, wo sich der Nebeneingang befand, durch den Jackon und er damals geflohen waren. Ein Loch klaffte im morschen Holz der Tür. Verwischte Stiefelspuren befanden sich im Schmutz auf dem Pflaster.
»Geh allein hinein«, erklang Luciens Stimme aus dem Nichts. »Ich warte hier auf dich.«
»Wieso kommst du nicht mit?«
»Jackon hat Magie im Blut. Er kann mich sehen. Ruf mich, wenn es Probleme gibt.«
Liams Herz klopfte heftig, als er sich durch den Spalt zwängte. Für ihn war es erst ein paar Tage her, dass er Jackon das letzte Mal gesehen hatte, für seinen Freund dagegen waren seitdem mehrere Monate vergangen – sehr ereignisreiche Monate obendrein. Er konnte überhaupt nicht einschätzen, was ihn erwartete.
Stille erfüllte die dämmrige Halle. Die Hochöfen waren erkaltet, die Maschinen setzten Staub und Rost an. Liam konnte sich noch gut daran erinnern, wie sie aus dem Schacht gekrochen waren, heilfroh, endlich einen Ausgang aus dem unterirdischen Labyrinth gefunden zu haben. Was für ein Tag das gewesen war! Die Arbeiter hatten sie für Ghule gehalten.
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