Pandaemonia 02 - Die Stadt der Seelen
verabschieden.
»Willst du mir nicht erzählen, was los ist?«, fragte Nedjo.
»Kann ich Livia eine Nachricht hinterlassen?«
»Natürlich. Schau mal in ihrem Wagen nach. Sie müsste irgendwo Papier und Tinte haben.«
Vivana setzte Ruac ab und stieg die Trittleiter von Livias Reisewagen hinauf. Der Tatzelwurm watschelte über das Kopfsteinpflaster und rollte sich im letzten Fleckchen Sonne auf dem Platz zusammen.
Sie öffnete die Wagentür und trat ein. Nachdem sie in einer von Livias Zedernholzkisten Schreibzeug gefunden hatte, setzte sie sich an den kleinen Tisch und tunkte den Federkiel in das Tintenglas.
Ihr Blick schweifte über die Regalbretter mit den alten Folianten, über die Schnüre mit getrockneten Kräutern, die von der Decke hingen. Es gab so vieles, was sie ihrer Tante sagen wollte. Sie wusste nicht, womit sie anfangen sollte.
Während sie nach Worten suchte, wurde ihr plötzlich bewusst, dass sie vielleicht zum letzten Mal hier saß. Das Pandæmonium war ein schrecklicher Ort, schlimmer als alles, was sie sich vorstellen konnte. Nicht ausgeschlossen, dass sie ihre Tante nie wiedersehen würde.
Sie kaute auf ihrer Unterlippe, strich das Papier glatt und begann zu schreiben.
Liebe Tante Livia,
Ich habe mein Versprechen nicht gehalten und Liam geholfen, in die Bibliothek von Lady Sarka einzubrechen – ich konnte ihn einfach nicht allein gehen lassen. Es tut mir leid.
Heute Nacht ist etwas Schreckliches geschehen. Nachdem wir das Buch gefunden hatten, haben Ghule und Schattenwesen den Palast angegriffen. Eines der Wesen, ein Incubus, hat Liam ins Pandæmonium geschleudert. Ich weiß, wie sich das anhören muss – ich kann es selbst kaum glauben –, trotzdem ist es wahr.
Ich glaube fest daran, dass Liam noch am Leben ist, aber wenn ich ihn retten will, darf ich keine Zeit verlieren. Deshalb kann ich nicht auf dich warten. Wenn du diesen Brief liest, werde ich schon auf dem Weg ins Pandæmonium sein. Ich habe herausgefunden, wo ein Tor ist. In wenigen Stunden öffnet es sich.
Bitte mach dir keine Sorgen um mich. Ich gehe nicht allein. Mein Vater ist bei mir und ein Freund. Du hast vielleicht schon von ihm gehört. Sein Name ist Lucien. Er ist ein Alb. Wahrscheinlich bist du jetzt wütend auf mich. Glaub mir, ich hätte dir all das lieber persönlich gesagt.
Wünsch mir Glück.
Vivana
Sie blies die Tinte trocken und faltete den Brief zusammen. Dann stand sie auf und blickte sich ein letztes Mal in dem Reisewagen um, der ihr immer wie eine zweite Heimat erschienen war, wie eine Zuflucht, wenn sie Bradost und die Welt ihres Vaters nicht mehr ertrug. »Leb wohl«, murmelte sie und schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter.
»Willst du nicht doch lieber warten?«, erkundigte sich Nedjo, als sie nach draußen trat. »Vielleicht hast du Glück, und Livia kommt gleich.«
»Nein. Ich muss los. Kannst du ihr das geben?«
»Natürlich.« Der Manusch nahm die Nachricht entgegen. Er runzelte die Stirn. »Es ist doch alles in Ordnung, oder?«
»Klar. Mach’s gut, Nedjo«, sagte Vivana und umarmte ihn.
»Du tust gerade so, als wolltest du fortgehen«, meinte er verwirrt.
»Livia wird dir alles erklären.« Sie blickte auf. Nicht mehr lange bis Sonnenuntergang. Höchste Zeit, dass sie sich auf den Weg machte. Sie rang sich ein Lächeln ab, hob Ruac auf und schlenderte betont gelassen davon.
Als der Wanderzirkus außer Sicht war, ging sie schneller, rannte beinahe, die Arme um Ruac geschlungen. Sie konnte nur hoffen, dass Nedjo nicht auf dumme Ideen kam. Das Letzte, was sie jetzt brauchte, war ein misstrauischer Verwandter, der ihr heimlich folgte. Verstohlen blickte sie über die Schulter, konnte ihn jedoch nirgends entdecken. Um sicherzugehen, nahm sie einen Schleichweg durch Seitengassen, Hinterhöfe und trockengelegte Kanäle, wo sie sich rasch in einem dunklen Winkel verstecken konnte, wenn es sein musste.
Kurz darauf betrat sie den Platz, der die Alte Arena umgab. Die Lampenanzünder machten gerade die Runde, und das gewaltige Gebäude, eben noch ein konturloser Block im Zwielicht der Abenddämmerung, erstrahlte nun im Schein der Gaslaternen. Rundbögen durchbrachen das rußige, verwitterte Mauerwerk, das ein gewaltiges Oval bildete und drohend aus dem Kopfsteinpflaster wuchs. Risse und Löcher klafften darin, manche so breit, dass Vivana die terassenförmig angelegten Zuschauerränge im Innern erkennen konnte. Dutzende von Statuen krönten den Mauerring, von Wind und Wetter im Lauf
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