Pandaemonia 03 - Phoenixfeuer
kaum Ähnlichkeit mit dem engen und farbenfrohen Gassengewirr, in dem er aufgewachsen war. Die Häuser, herrschaftliche Anwesen mit Bleidächern, Butzenscheiben und Erkern, standen weit auseinander; dazwischen erstreckten sich Gärten mit Brunnen und uralten Bäumen. Lucien führte sie eine Straße entlang, die verlassen wirkte und sich einen Hügel hinaufwand. Dort, verborgen hinter dichten Büschen und Bäumen, befand sich ein Friedhof. Er war alt, wie alles in dieser Gegend. Aus dem Dornengestrüpp erhoben sich die Säulen und Kuppeln kunstvoller Grabmäler, im Gras lagen umgestürzte Steinfiguren. Der gepflasterte Pfad, den sie einschlugen, war unter all dem Unkraut kaum zu erkennen. Voller Unbehagen betrachtete Liam eine Statue von Tessarion, die mit himmelwärts gereckten Händen über einer Grabplatte stand, das Gesicht voller Trauer. Sein Herz klopfte wild.
Schon die ganze Zeit spukte ihm das Märchen von den Bleichen Männern im Kopf herum. Es erzählte von einer Gruppe böser Alchymisten, die von der Königin von Bradost als Strafe für ihre Untaten in fünf Obsidianspiegel gebannt wurden. Seitdem streiften sie, schattenhaften Geistern gleich, durch ein Reich jenseits der Wirklichkeit, auf der Suche nach Erlösung. Es hieß, im Morgengrauen, während die Stadt in graues Zwielicht getaucht war, könne man sie manchmal im Spiegel sehen, bleiche Gesichter, die stumm um Vergebung flehten, bevor sie wieder im Nirgendwo verschwanden. Liam war noch ein Kind gewesen, als ihm sein Vater diese Geschichte erzählt hatte. Danach hatte er sich tagelang nicht in die Nähe eines Spiegels gewagt.
Er schloss zu Lucien auf. »Darf ich dich etwas fragen?«
»Nur zu.«
»Du kennst doch das Märchen von den Bleichen Männern, oder? Entspricht davon eigentlich etwas der Wahrheit?«
»Es erzählt eine verklärte Version der Geschichte. Ich fürchte, die Wahrheit ist viel schrecklicher.«
»Inwiefern?«
Lucien bog die Äste eines Buschs, der den Pfad überwucherte, zur Seite. »Wahr ist, dass die Bleichen Männer einst Alchymisten gewesen sind. Sie lebten vor ungefähr siebenhundert Jahren. Sie waren mächtiger und einflussreicher als jeder andere ihrer Zunft, und mit der Zeit wurden sie immer überheblicher. Sie glaubten, mit ihrer Kunst schlichtweg
alles
bewirken zu können. In ihrem Größenwahn führten sie ein gewaltiges Experiment durch, um auf einen Schlag alle Krankheiten auszurotten. Leider schlug es fehl. Anstatt sämtliche Krankheiten zu besiegen, schufen sie eine neue. Eine, die schlimmer war als jede Seuche, die Bradost bisher erlebt hatte: die Cholera.«
»Die Bleichen Männer haben die Cholera in die Welt gebracht?«, fragte Liam erschüttert.
Lucien nickte. »Die Krankheitserreger entkamen ihren Laboren, und in der Stadt brach eine Epidemie aus. Tausende starben. Die Königin wusste, wer dahintersteckte. Sie ließ die Alchymisten verhaften und verurteilte sie zum Tod am Galgen. Allerdings gab es in der Gilde Kräfte, die das gewaltige Wissen der fünf unbedingt erhalten wollten. Als sie hingerichtet wurden, gelang es anderen Alchymisten, ihre Seelen zu retten und an fünf Obsidianspiegel zu binden. So lebten sie als körperlose Geister weiter und konnten ihren Rettern ihr Wissen weitergeben.«
»Wieso sind die Spiegel dann hier und nicht bei der Alchymistengilde in den Aetherküchen?«
»Die Spiegel wurden an einen geheimen Ort gebracht. Als die Königin erfuhr, was die Gilde getan hatte, war sie außer sich vor Zorn — sie hatte bei der Epidemie ihren einzigen Sohn und Thronerben verloren. Sie ließ die Verantwortlichen festnehmen und hinrichten. Ihr Wissen um das Versteck des Spiegelsaals nahmen die Männer mit ins Grab, wodurch es schließlich in Vergessenheit geriet.«
Sie hatten das Ende des Friedhofs erreicht. Sie kletterten über die brüchige Mauer und stapften durch ein Kastanienwäldchen. Es war völlig verwildert. Totes Holz türmte sich zwischen den Baumstämmen auf, und an manchen Stellen war das Gestrüpp undurchdringlich.
Die Gefährten schwiegen einige Minuten. Den nachdenklichen Gesichtern von Vivana und Quindal entnahm Liam, dass sie die wahre Geschichte der Bleichen Männer auch noch nicht gekannt hatten.
»Wieso glaubst du, dass uns die Bleichen Männer helfen können?«, fragte Vivana schließlich. »Meinst du wirklich, sie wissen etwas über den Phönix und den Bindezauber von Lady Sarka?«
»Vermutlich haben die Bleichen Männer zu ihren Lebzeiten das Gelbe Buch von Yaro D'ar
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