Pandaemonium - Die Letzte Gefahr
Blick, der die ganze Zeit nichts gesagt hatte und jetzt wegschaute, weil er nicht wusste, was er erwidern sollte.
»Jetzt hör mir gut zu, Naomi!«, sagte ihre Mutter. Sie klang jetzt bestimmt, nicht mehr so gebrochen wie zuvor. Etwas Kraft schien in sie zurückzukehren. »Ihr müsst euch in Sicherheit bringen. Das ist alles, was zählt.« Sie machte eine kurze Pause und schaute dabei ihrer Tochter fest in die Augen. »Du musst mir das versprechen, Schatz! … Naomi?«
Das Mädchen antwortete nicht, sondern starrte einfach nur in das Gesicht ihrer Mutter, bis ihr schließlich eine Träne über die Wange kullerte. »Ich habe Papa schon verloren. Ich will dich nicht auch noch verlieren, Mama.«
In dem Bewusstsein, dass sie nichts mehr für ihre Tochter tun konnte und Naomi bald ganz allein auf sich gestellt sein würde, gelang es Simone auch nicht mehr, ihre Tränen zurückzuhalten, und so ließ sie ihnen freien Lauf. Mit den Fingern strich sie zärtlich über das Visier von Naomis Schutzanzug, so als würde sie das Gesicht ihrer Tochter streicheln. Dann zog sie den Brief hervor, den Gabriela ihr gegeben hatte, kurz bevor sie auf die Seuchenstation gebracht worden war, und streckte ihn Naomi entgegen.
»Von wem ist der?«, fragte sie erstaunt, nachdem sie den Umschlag an sich genommen und die kolumbianische Briefmarke gesehen hatte.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Simone.
»Das ist nicht Papas Handschrift!«
Naomi überlegte kurz, ob sie ihn gleich öffnen sollte, doch dann verwarf sie den Gedanken wieder. Es galt jetzt, ihre Mutter zu retten. Sie steckte den Brief weg und erklärte: »Ich werde mit König reden! Er kann nicht so unmenschlich sein und dich einfach hierlassen!« Ihre Trauer schien auf einmal wie weggeblasen. Sie schaute auf die Uhr, die an der Wand hing. »Wir müssen uns beeilen. Der Hubschrauber wird bald hier sein.«
Simone zögerte. Sie überlegte kurz, wie sie ihre Tochter noch überzeugen konnte, ohne sie zu gehen, doch dann meldete sich auch bei ihr der Überlebensinstinkt. Ein Funke Hoffnung keimte in ihr auf, dass es Naomi vielleicht doch gelingen könnte, König dazu zu bewegen, sie mitzunehmen.
Sie verließen gemeinsam die Seuchenstation. Als sie hinaustraten, musste Simone beim Anblick der vielen Leichen, die auf dem Gelände vor dem Eingang lagen, erst einmal nach Luft ringen. Obwohl sie sich in ihrem Versteck bereits die schlimmsten Dinge ausgemalt hatte, war sie schockiert über das Ausmaß an Grausamkeit, mit der der Tod auf dem Campus gewütet hatte, und es kostete sie Überwindung, über die Leichen zu steigen. Naomi drehte sich mehrmals nach ihrer Mutter um, die hinter ihr ging. Simone blieb immer wieder stehen und starrte voller Entsetzen auf die Toten vor ihren Füßen. Naomi ahnte, dass ihre Mutter in diesen Momenten daran dachte, wie sie selbst bald irgendwo tot auf der Erde liegen würde. Das zerriss ihr beinahe das Herz.
Sie erreichten schließlich den Hubschrauberlandeplatz vor der Chirurgischen Rettungsstelle, an dessen Rand Jimmy stand; den Rücken hatte er ihnen zugewandt. Sein Oberkörper war leicht nach vorne gebeugt, und sie hörten ihn husten, wenn auch gedämpft wegen des Schutzhelms. Als er hörte, dass jemand auf ihn zueilte, zog er seine Waffe und wirbelte herum. Als er sah, dass sie es waren, entspannte er sich wieder und ließ die Waffe sinken. Naomis Blick fiel auf seine Unterlippe, und sie vermeinte, Blut an ihr zu entdecken. Jimmy, der das mitbekam, fuhr mit der Zunge schnell darüber.
Dann blickte er zu Simone und fragte: »Warum habt ihr sie mitgebracht?«
55
Schließe die Augen und erlaube dir zu träumen. In deinen Gedanken reist du durch eine wunderschöne Wolkenlandschaft. Weiß, weich und sanft umhüllen die Wolken dich. Du entspannst dich, wirst leichter und freier, bist erfüllt von innerem Frieden und tiefer Freude.
Witter erinnerte sich genauestens an die Worte der Heilerin auf der CD mit dem Titel Reise in deine Seele , die seine verstorbene Frau Anna neben ähnlichen Titeln im Esoterikladen um die Ecke erstanden und andauernd gehört hatte. Das war gewesen, nachdem die ganzen Stimmungsaufheller sie auch nicht mehr hatten aufrichten können. Nach den Tabletten hatte sie alles mögliche andere ausprobiert, um sich besser zu fühlen.
Damals waren ihm die ruhigen, einlullenden Stimmen der selbsternannten Erleuchteten, Heiler, Schamanen – und wie sich die Magier und Zauberer der Naturreligionen sonst noch so nennen mochten –
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