Pandaemonium - Die Letzte Gefahr
mächtig auf die Nerven gegangen. Diese Scharlatane, die in Form von Audio- und Videomedien Einzug in die mit iPods und iPads, Flachbildschirmen und Dolbysurroundsystemen ausgestatteten Wohnzimmer einer übersättigten, nach spirituellem Sinn suchenden westlichen Welt Einzug gehalten hatten, wollten doch nichts weiter, als mit diesem Irrsinn den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen.
Als er seine Frau dann erhängt aufgefunden und später die ganzen DVDs, CDs und Hörbücher in die Mülltonne geworfen hatte, fühlte er sich in seiner Meinung bestätigt. Er hatte kurz darüber nachgedacht, den Esoterikladen um die Ecke wegen fahrlässiger Tötung anzuzeigen, den Gedanken dann aber wieder verworfen.
Jetzt, wo er auf seinem Bett saß – die Hände in den Schoß gelegt, den Rücken gebeugt – und auf das weiße Zelt starrte, löste die Stimme der Heilerin in seinem Kopf plötzlich den versprochenen Zustand aus, an den er zuvor nie geglaubt hatte. Und er begriff, dass er seiner Frau unrecht getan hatte.
Vielleicht waren es nicht innerer Frieden und innere Ruhe, sondern einfach nur die Müdigkeit und die Erschöpfung, die er verspürte, nachdem sie aus Berlin-Mitte geflohen waren. Womöglich war das auch der Grund dafür, warum er die Wolken nicht mehr über den Köpfen der Menschen sah, seitdem sie in der Zeltstadt angekommen waren. Sie waren einfach verschwunden. Er wusste nicht, ob er froh darüber sein sollte, wieder ganz der Alte zu sein. Der Mann, der nichts sah – der Mann ohne Gefühle.
Er hob den Kopf und blickte hinüber zu Paul, der neben Gabriela auf dem Bett saß, seinen Arm um sie gelegt hatte und sie zärtlich küsste. Waren er und seine Frau jemals so verliebt gewesen wie die beiden, fragte er sich in diesem Moment. Ja, er wusste, dass Anna ihn geliebt hatte. Doch er sie nicht. Seine Unfähigkeit, tiefe Gefühle für sie zu empfinden, hatte ihr das Leben unerträglich gemacht. Trug er Schuld am Tod seiner Frau? Ein Gedanke, den er immer verdrängt hatte, traf ihn jetzt mit voller Wucht, und ihm wurde ganz anders. Die Wolken mochten verschwunden sein, aber er hatte weiterhin Gefühle. Ganz eindeutig.
Der alte Mann stand auf und taumelte an Paul und Gabriela vorbei zum Ausgang des Zelts. Er hörte Paul noch rufen: »Wo gehen Sie hin, Herr Witter?«, aber da war er schon draußen.
Wann setzte der Tod seinem vergeudeten Leben endlich ein Ende? Mit diesem Gedanken schaute er hinauf zum Himmel über der Zeltstadt. Er war nicht mehr grau wie noch vor ein paar Stunden, sondern eigentümlich blau, fast wie an einem Frühlingstag, nur dass die Sonne nicht schien.
Alles erwacht zu neuem Leben .
Witter drehte den Kopf in Richtung Olympiastadion. Hatte er vor einem Augenblick noch gedacht, dass er seine Sehergabe verloren hatte, so wurde er jetzt eines Besseren belehrt. Sein Herz begann mit einem Mal doppelt so schnell zu schlagen. Mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen und offenem Mund beobachtete er, wie oben aus dem weißen Ring des Stadions langsam eine schwarze Wolke emporstieg. Der dickflüssigen Konsistenz und pechschwarzen Farbe nach war es die gleiche Art Wolke, die über den Köpfen der Todbringer geschwebt hatte – allerdings viel, viel größer. Eine riesige Unwetterwolke , fast so lang und breit wie das gesamte Spielfeld. Was hatte das zu bedeuten? Auf jeden Fall nichts Gutes.
Witter verharrte einen Moment in Schockstarre, dann rannte er los. Einige schauten ihm hinterher und schüttelten den Kopf; eine Frau und deren Kind, die er beinahe über den Haufen rannte, riefen ihm wütend etwas hinterher. Als er völlig außer Atem und schwer keuchend am Eingang der Zeltstadt ankam, sah er, wie die Wolke über den Dachrand des Stadions quoll und langsam an den Seiten hinunterfloss. Das Erschreckendste war, dass sie einfach die Menschen schluckte, die ahnungslos unten vor dem Stadion standen. Kaum waren diese Leute in der Wolke verschwunden, waberte die schwarze Masse weiter den Boden entlang – direkt auf die Zeltstadt zu.
Witter überlegte nicht lange. Er musste die anderen warnen! Er machte auf dem Absatz kehrt und rannte zurück.
56
König hatte Angst vor der Begegnung mit Naomi und ihrer Mutter. Würde er es übers Herz bringen, ihnen von Angesicht zu Angesicht die bittere Wahrheit zu sagen? Er musste der Anordnung, die es verbot, infizierte Personen aus den verseuchten Gebieten zu evakuieren, Folge leisten! Doch er wusste auch, dass Naomi das nicht akzeptieren und versuchen würde, ihn
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