Pandaemonium - Die Letzte Gefahr
Gedanken um die genaue Ausführung seines Abgangs in Phase drei, während er auf seinem Sessel am Fenster saß und mit einem Löffel die angetrockneten Reste aus einer Konservendose kratzte.
Ihn beschäftigte die Frage, ob er alle Schmerztabletten, die er über die Jahre gehortet hatte und die jetzt neben ihm auf dem kleinen Beistelltisch lagen, auf einmal nehmen sollte. Und wie viele von ihnen hatten überhaupt noch eine Wirkung? Bei den meisten war das Mindesthaltbarkeitsdatum längst abgelaufen. Oder sollte er irgendwann spät in der Nacht, wenn nur noch ganz wenige Fahrgäste unterwegs waren, vor die letzte U-Bahn springen? Aber was wäre, wenn er durch einen unglücklichen Zufall überlebte und seine letzten Tage als Krüppel, gefesselt an ein Bett in einem Pflegeheim, dahinvegetieren müsste?
Lautes Gebell, das von draußen durch das geschlossene Balkonfenster drang, unterbrach den mäandernden Fluss seiner Gedanken. Obwohl alltägliche Ärgernisse solcher Art ihn mittlerweile einen Dreck scherten, horchte er auf, denn die Kläfferei hörte nicht auf. Seltsam daran war, dass er Geräusche von der Straße normalerweise nicht so laut vernahm, schließlich wohnte er hier recht weit oben. Und wenn ein Nachbar sich einen Köter zugelegt hätte, wäre ihm das sicherlich aufgefallen – zumindest, bevor er sich zum Sterben zurückgezogen hatte. Woher kam also dieses Geräusch?
Ein gewisses Interesse überkam ihn – es als Neugier zu bezeichnen, wäre in seinem Geisteszustand völlig übertrieben gewesen –, und so stand er auf, löste den Rand einer Zeitung vorsichtig vom Fenster und lugte durch den Spalt hinaus. Zunächst sah er nichts. Doch dann entdeckte er auf dem Dach des gegenüberliegenden Gebäudeteils etwas, das er sofort wiedererkannte: das goldblond leuchtende Haar von Kenny, das aus jeder Menschenmenge hervorstach. Es stand in einem extremen Kontrast zu der riesigen schwarzen Wolke, die direkt über Kenny waberte und sich ausbreitete.
Witter wusste sofort, dass etwas Schlimmes passieren würde.
Dann geschah etwas mit ihm, was er in seinen kühnsten Träumen nicht mehr erwartet hätte: Sein Lebenswille kehrte zurück. Gab es vielleicht doch noch einen Sinn für ihn – den Wolkenseher –, weswegen er weiterleben sollte?
Er eilte zur Tür, riss hektisch das Klebeband ab und stürzte in Pantoffeln und Bademantel aus der Wohnung.
14
BERLIN-MITTE, PLATTENBAUSIEDLUNG,
27. NOVEMBER
Naomi öffnete vorsichtig die Tür zum Dach. Obwohl sie dabei vollkommen lautlos sein wollte, quietschte und knarrte die Metalltür wie ein altes Scheunentor. Sie war zunächst darüber verwundert, dass sie außer den nächtlichen Hintergrundgeräuschen der Stadt, die für ihre Ohren zu einem ständigen Rauschen verschmolzen, und dem Pfeifen des Windes nichts weiter vernahm: kein Knurren, kein Bellen und auch sonst keine außergewöhnlichen Laute. Waren Kenny und sein Hund gar nicht mehr hier oben? Wahrscheinlich war der kleine Kläffer ausgebüxt, und Kenny hatte nach ihm gesucht und ihn inzwischen wieder in die Wohnung zurückgebracht, dachte sie und wollte sich wieder zurückziehen.
Plötzlich hörte sie hinter einem großen Metallaufbau, der kaum mehr als zwanzig Meter von ihr entfernt war und in dem sich der Maschinenraum des Fahrstuhls befand, ein schreckliches Jaulen. Es klang wie von einem Tier, das Todesqualen ausstand. Als kleines Mädchen hatte sie solche verzweifelten animalischen Schreie schon einmal gehört, und noch Jahre danach war sie in ihren Träumen von diesen furchtbaren Lauten verfolgt worden. Damals hatte sie nur entsetzt mit angesehen, wie ein Mitschüler aus reinem Sadismus eine Katze gequält hatte. Jetzt schien es eine Gelegenheit zu geben, ihr Fehlverhalten von einst quasi wiedergutzumachen und dieses Mal einzuschreiten, um ein Tier zu retten.
Sie eilte los. Kurz bevor sie den Maschinenraum erreichte, vernahm sie ein lautes Knacken, so als würde jemand einen Ast mit Gewalt auf dem angehobenen Knie zerbrechen. Sie hielt in ihrer Bewegung inne und ging dann langsam um das Häuschen herum.
Das Erste, was sie sah, war der Kopf eines Hundes, der leblos und schlaff herunterhing. Die Zunge hing aus der Schnauze heraus, und die Augen waren weit aufgerissen. Dann sah sie eine menschliche Hand im braun-weißen Fell, deren Sehnen unter der Haut hervortraten und den kleinen Körper wie einen Schraubstock brutal umschloss. Ihr stockte der Atem.
»Kenny, was hast du bloß gemacht«, hörte sie eine tiefe
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