Pandaemonium - Die Letzte Gefahr
angewiesen, dass die Wissenschaftler und die Pharmakonzerne einen Impfstoff entwickelten und in riesigen Mengen herstellten. »Wahrscheinlich sind das nur einzelne Fälle«, versuchte sie zu beschwichtigen. »Solange wir nicht wissen, was das für ein Virus ist, und sie die Infektionsquelle nicht gefunden haben, sollten wir Ruhe bewahren.«
Kurze Zeit später musste Simone fortgehen. Sie verabschiedete sich von ihrer Tochter, drückte ihr noch einen Kuss auf die Wange und verließ die Wohnung.
Naomi räumte die Küche auf, wusch das Geschirr ab und setzte sich dann mit einem Joghurt vor die Glotze im Wohnzimmer. Sie zappte durch die Programme und blieb bei RTL II hängen, wo gerade die Wiederholung einer Folge der Doku-Soap Familien-Krieg lief. Eine der Frauen und ihre Familie kannte sie. Die Pawutzkes wohnten auch in der Platte und genossen einen gewissen »Promi-Status«. Zumindest verhielten sie sich so und glaubten, etwas Besseres zu sein, seitdem sie das erste Mal im TV zu sehen gewesen waren. Die älteste Tochter Angelina, eine arbeitslose, »falsche« Blondine, die in der TV-Show immer ein bauchfreies Top trug, an dessen Seite der Speck ihrer Hüften herausquoll, träumte seither von einer großen Karriere im Fernsehen. In der Hoffnung, richtig berühmt zu werden, bewarb sie sich bei allen möglichen Reality-TV-Serien.
Nach ein paar Minuten zappte Naomi weiter, weil sie das hohle Geschwätz von Angelina nicht mehr ertrug. Aber auch auf den anderen Sendern lief nichts, was sie interessierte, und so schaltete sie nach einer Weile den Fernseher wieder aus.
Als sie auf die Wand blickte, die sie von der Nachbarwohnung trennte, in der Johanna Wedkind vor ihrem Tod gewohnt hatte, tauchten vor ihrem geistigen Auge noch einmal die schrecklichen Bilder auf. Sie hatte auch mit Rafael heute in der Schule darüber gesprochen. Er hatte sich ebenfalls keinen Reim darauf machen können, wie diese nette, alte Frau sich in kurzer Zeit in eine so grausame Bestie verwandeln konnte.
Naomi ging in ihr Zimmer und schaute durch das Fernrohr. Die über Berlin hängenden Wolken reflektierten das künstliche Licht der Straßenlaternen und Leuchtreklamen und erhellten die Nacht. Der Fernsehturm, der wegen seiner glitzernden Metallfassade sehr oft mit einer riesigen Discokugel verglichen wurde, schimmerte matt. Naomi schwenkte mit dem Teleskop langsam über die nächtliche Silhouette der Stadt, dann hinunter auf die vierspurige Straße vor dem Haus.
Sie beobachtete eine aufgemotzte Harley, die mit überhöhter Geschwindigkeit aus Richtung Alexanderplatz heranpreschte und auf dem Parkplatz vor dem Plattenbau anhielt. Die Beifahrerin stieg ab. Auffällig waren der kurze Rock und die schwarzen, hohen Lackpumps mit Glitzersteinbesatz an den Stilettos. Es sah nicht so aus, als hätten die beiden eine lange Motorradfahrt hinter sich, eher, als kämen sie gerade von einem Werbefotoshooting oder einem Videodreh. Als sie ihren Helm abnahm, fiel langes blondes Haar auf ihre Schultern. Naomi erkannte sofort, dass es Angelina war. Sie stöhnte auf, weil sie ihr heute schon zum zweiten Mal »unter die Augen kam«. Der Fahrer, ein älterer Typ – Marke Yuppie mit Seitenscheitel –, setzte ebenfalls seinen Helm ab, strich sich das Haar glatt und küsste seine Beifahrerin zum Abschied auf den Mund. Anschließend beobachtete Naomi, wie Angelina auf den Eingang des anderen, L-förmig verlaufenden Teils des Plattenbaus zuschritt. Sie wackelte stark mit den Hüften, was natürlich beabsichtigt war, um den Typen, der ihr hinterherstierte, heißzumachen. In letzter Zeit hatte sie einige Kilogramm abgenommen und sah längst nicht mehr so pummelig aus wie noch in der Fernsehsendung. Anscheinend unterwarf sie sich neuerdings einem knallharten Programm zur Förderung ihrer Karriere. Bevor sie ins Gebäude ging, drehte sie sich noch einmal um und lächelte ihrem Freund verführerisch zu. Der Kerl grinste zurück, startete das Motorrad und brauste davon.
Naomi schwenkte das Fernrohr, sodass sie hinüber zur obersten Etage des anderen Teils ihres Plattenbaus schauen konnte. In der Wohnung der Pawutzkes war es dunkel. Die Mutter arbeitete als Bardame und war daher oft nachts nicht zu Hause. Ihr Mann saß im Knast, und Reik und Falk – die beiden älteren Brüder von Angelina – hingen jeden Abend mit ihren Cliquen irgendwo in Berlin herum und soffen sich das Hirn weg. Naomi hatte sich für die Familie nie sehr interessiert, und sie hatte ihnen auch keine
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