Pandaemonium - Die Letzte Gefahr
Fällen als nicht zutreffend herausgestellt hatte. »Wir werden die Angelegenheit mit dem kleinen Kenny verfolgen und uns gegebenenfalls wieder bei Ihnen melden«, versprach sie, bevor sie den Hörer auflegte.
Nach der Schule war Naomi immer etwas müde, und in der Regel gönnte sie sich am frühen Nachmittag ein kurzes Nickerchen, aber heute konnte sie einfach nicht einschlafen.
Sie lag auf ihrem Bett, starrte hoch zur Decke und musste ständig an ihren Vater und an seinen letzten Besuch vor dem Unglück denken. Er hatte sie am Tag des Abflugs nach Kolumbien am Flughafen fester und enger als sonst an sich gedrückt, ganz als sei dies ein Abschied für immer gewesen. Vielleicht plante er schon zu diesem Zeitpunkt, unterzutauchen und sein altes Leben wie eine zweite Haut abzustreifen … Ihre Gedanken wurden jäh unterbrochen, als plötzlich laute Musik durch die dünne Rigipswand aus der Nachbarwohnung drang.
Naomi schreckte hoch. Wer hatte die Musik angestellt? Johanna Wedkinds Wohnung war von Personen in weißen Schutzanzügen untersucht worden, über die Naomi jedoch nichts weiter hatte in Erfahrung bringen können. Beim Versuch, an der dünnen Wand zu lauschen, hatte sie lediglich das Wort »Infektionsschutz« aufschnappen können. Und danach war die Tür von der Polizei versiegelt worden.
Naomi erkannte sofort die Stimme der Sängerin, die nach einem kurzen Trommel-Intro einsetzte. Die alte Dame hatte die Musik von Mireille Mathieu über alles geliebt und andauernd laufen lassen. Und zwar oft so laut, dass sich die Nachbarn öfters bei ihr beschwert hatten. Naomi kannte die Titel in- und auswendig. Im Augenblick wurde La Donna Madre wiedergegeben: ein dramatischer Song auf einer Platte, die der Filmkomponist Ennio Morricone in den Siebzigerjahren für die Mathieu geschrieben und komponiert hatte. Johanna Wedkind hatte keine CDs, sondern ausschließlich Schallplatten besessen, was man deutlich hören konnte: Die Scheiben erzeugten laute Knackgeräusche, denn sie waren vom häufigen Gebrauch ziemlich verkratzt.
Naomi sprang auf, schlüpfte hastig in ihre Turnschuhe und rannte aus der Wohnung. Auf dem Flur traf sie Sigmund Witter, der den Lärm ebenfalls vernommen hatte.
Er starrte Naomi fassungslos an. Sie konnte an seinem Gesichtsausdruck ablesen, dass auch er sich fragte, wieso man Musik in Johanna Wedkinds Wohnung hörte, wo die alte Frau doch tot war.
Die Platte blieb plötzlich hängen und wiederholte unablässig die Stelle, an der die Sängerin sich zu höchsten Tönen aufschwang. Das hallte so laut durch den Gang, dass auch andere Hausbewohner aufgeschreckt wurden. Die Türen der anderen Wohnungen auf der Etage öffneten sich, und mehrere Leute streckten ihre Köpfe heraus. Einige von ihnen knallten die Türen kurz darauf wieder zu, nicht ohne zuvor ihrem Unmut lauthals Luft gemacht zu haben. Andere gesellten sich zu Naomi und Witter, regten sich auf und wollten wegen der Ruhestörung die Polizei verständigen.
Witter trat schließlich aus dem Kreis der aufgeregten Nachbarn, ging zur Tür, klingelte mehrmals und rief: »Wer auch immer da drin ist: Stellen Sie die Musik leiser!«
Nichts passierte. Witter hatte sogar den Eindruck, dass die Lautstärke höher gedreht wurde.
Als er ein weiteres Mal klingelte, fiel ihm auf, dass an der Tür das amtliche Siegel abgerissen und das Holz neben dem Schloss gesplittert war. Die Tür stand einen kleinen Spalt offen. Jemand musste sich mit Gewalt Zugang zu der Wohnung verschafft haben. Er drehte langsam seinen Kopf zu Naomi und den anderen und sagte beklommen: »Verständigt die Polizei!«
Trude Bronsek, eine verwitwete, dickliche Mittsechzigerin, die zusammen mit ihren zwei Perserkatzen auf derselben Etage wohnte, griff in die Tasche ihres Schürzenkleides und holte ein Handy hervor.
Witter wartete nicht ab, bis sie angerufen hatte, und drückte vorsichtig gegen die Tür, die daraufhin langsam aufschwang. Der schlauchartige Flur der Wohnung lag im Dunkeln. An seinem Ende stand die Tür zum Wohnzimmer halb offen, und Tageslicht fiel diffus in den Gang. Witter tastete nach dem Lichtschalter neben der Tür. Schließlich fand er ihn und drückte, aber die Lampe ging nicht an. Er überlegte kurz, ob er warten sollte, bis die Polizei da war – doch dann gab er sich einen Ruck und betrat die Wohnung.
QUARANTÄNE
19
Es war kurz nach der Mittagszeit, als Jimmy K. in seinem 3er-BMW mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit in Richtung Berlin-Mitte fuhr.
Seine
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