Pandaemonium - Die Letzte Gefahr
wollte weiterrennen, als er unten im Treppenhaus jemanden rufen hörte: »Was ist da los?«
Jetzt auch noch so ein Scheißnachbar, der dich aufhält. Warum bist du nur stehen geblieben!? Die Gesichtszüge entglitten ihm zu einer Maske des Ärgers, während er sich langsam umdrehte. Es war Paul Cancic, der auf der Treppe zu ihm hochstieg.
»Keine Ahnung!«, antwortete Jimmy und zuckte mit den Schultern.
Paul machte einen verstörten Eindruck. Als er noch zwei Stufen entfernt war, wehte Jimmy eine widerliche Alkoholfahne entgegen. Ihm fielen das weiße Hemd und die elegante Hose auf sowie die hochglanzpolierten schwarzen Schuhe. Jimmy wunderte sich kurz, denn er kannte den Säufer nur in verschwitzten T-Shirts, ausgebeulten Jogginghosen und Uralt-Sneakern.
»Ich ruf die Polizei an!« Paul zog ein Handy aus seiner Hosentasche und wollte die Notrufnummer tippen, aber Jimmy packte seinen Arm, drückte ihn zur Seite und befahl in einschüchterndem Tonfall: »Das lässt du bleiben!«
Paul steckte widerspruchslos das Handy ein. Er wusste, dass die Polizei gelegentlich bei Jimmy auftauchte; die Gründe hatten ihn aber nie interessiert. Jimmy war nicht der Einzige in der »Platte«, dem die Polizei regelmäßig Besuche abstattete.
»Ich schau nach, und du bleibst hier stehen«, wies Jimmy ihn an. Er ging zur Tür und drückte langsam den Griff nach unten, als ein zweiter und sogleich darauf ein dritter Schuss fielen. Erneut ertönten Schreie.
Vorsichtig drückte Jimmy die Tür auf. Sein Blick fiel zuerst auf eine Frau, die in einer Blutlache auf dem Boden saß. Ihr Kopf war gegen die Wand gelehnt, und mitten auf ihrer Stirn klaffte ein großes Loch, aus dem Blut über ihr Gesicht nach unten auf ein Schürzenkleid mit Blumenmustern floss. Der Saum der Schürze war nach oben gerutscht und gab die Sicht auf einen breiten weißen Schlüpfer, wie ihn ältere Damen aus praktischen Gründen zu tragen pflegen, und auf ihre nackten Schenkel frei, die beide ebenfalls von Kugeln durchlöchert worden waren.
Ungefähr in der Mitte des Gangs, wenige Meter vor Jimmy, stand der Schütze, der ihm den Rücken zuwandte. Seine Uniform wies ihn als Polizisten aus. Sein rechter Arm hing an der Seite herab. In der Hand hielt er die Waffe. Für den Bruchteil von Sekunden schien dieses Bild wie eingefroren: Weiter hinten auf dem Flur standen Nachbarn, die Jimmy nicht persönlich, aber vom Sehen her kannte. Darunter waren auch das junge Mädchen, das noch nicht allzu lange hier wohnte und von dem er sich manchmal beobachtet fühlte, und der alte, verrückte Mann, dem er neulich erst im Aufzug begegnet war. Die ganze Fahrt hinunter bis ins Erdgeschoss hatte der Alte über Jimmys Kopf in die Luft gestarrt, so als würde er dort Geister sehen. Ihre Münder standen jetzt vor Entsetzen unnatürlich weit offen, wie auf dem berühmten Bild Der Schrei von Edvard Munch – ein Anblick, der sich Jimmy ins Gehirn einbrannte.
Dann kam plötzlich wieder Leben in die Szenerie. Der Polizist ging ein paar Schritte nach vorne, wobei er seinen linken Fuß hinter sich herzog. Dann hob er ruckartig den Arm an, zielte mit der Pistole auf die anderen Nachbarn und drückte ab. Die Menge stob schreiend auseinander. Jimmy hörte noch das Geräusch der Kugel, als sie wenige Zentimeter über dem Kopf des Alten in der Wand einschlug und Putz auf ihn niederrieseln ließ, bevor er losrannte, sich von hinten auf den Polizisten stürzte und ihn mit seinem ganzen Gewicht zu Boden warf.
Jimmy hatte nicht damit gerechnet, dass der dicke Polizist übermenschliche Kräfte besaß, aber nachdem es erst so schien, dass der Beamte auf dem Bauch liegen bleiben würde und man ihm die Waffe aus der Hand schlagen könnte, warf er sich auf einmal herum und schleuderte Jimmy mit brutaler Wucht von sich herunter. Bevor Jimmy wieder auf die Beine kam, war der andere schon aufgestanden und richtete die Waffe auf ihn. Als er dem Bullen ins eigentümlich aufgedunsene und blutleer wirkende Gesicht sah, erkannte er sofort, wer das war: der einzige Polizist, von dem Jimmy wusste, dass er in der »Platte« wohnte, und dem er grundsätzlich weiträumig aus dem Weg gegangen war.
»Tun Sie das nicht, Stielke!«, beschwor Jimmy ihn, rutschte auf dem Boden nach hinten und stieß dabei mit dem Rücken gegen die Wand.
Kennys Vater zeigte keine Reaktion. Die Farbe seiner Augen war kaum auszumachen, so wässrig waren sie. Weinte er etwa? Der Finger lag am Abzug.
Weshalb zögert er und drückt nicht
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