Pandaemonium - Die Letzte Gefahr
Oder sie würde Interviews geben, in denen sie die Kaltherzigkeit und Kaltschnäuzigkeit der Behörden und Politiker anprangerte, Menschen in einem normalen Wohngebäude wie Gefangene zu halten.
Auch die alten Selbstvorwürfe kamen wieder in ihr hoch, die sie sich in letzter Zeit verstärkt gemacht hatte. Warum war es ihr nicht gelungen, ihre Ehe zu retten? Olaf wäre dann nicht bei dem Attentat auf das Flugzeug zu Tode gekommen, und das Leben ihrer Tochter wie auch ihres wäre ganz anders – glücklicher – verlaufen. War das Schicksal eines Menschen unvermeidlich, oder war es möglich, ihm willentlich zu entgehen? , fragte sich Simone.
Je mehr sie darüber nachdachte, umso nervöser wurde sie. Sie setzte sich aufs Bett, schloss die Augen und versuchte, sich zu beruhigen.
Es wird nicht mehr lange dauern, dann kommen die Ärzte zu dir und teilen dir mit, dass alles in Ordnung ist und sie das Virus nicht in deinem Blut gefunden haben. Sie werden dich dabei anlächeln. Du wirst zurücklächeln, man wird dir auf die Schulter klopfen und dir alles Gute wünschen …
Sie hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, da öffnete sich auf einmal langsam die elektrische Tür zur Schleuse vor dem Patientenzimmer. Ein Lächeln huschte unwillkürlich über ihre Lippen. Jetzt würden sich ihre Hoffnungen erfüllen. Aber statt der Ärzte sah sie nur den Pfleger im Türrahmen stehen, der ihr vorhin versprochen hatte, wiederzukommen.
Ihr fiel sofort auf, dass er seltsam bleich aussah und die Hand auf seine Kehle gedrückt hielt. Auf seiner Kleidung waren überall große blutrote Flecken. Er blieb einen Moment stehen, dann torkelte er nach vorne, direkt auf die Glasscheibe zu. Wie ein Fisch auf dem Trockenen schnappte er dabei panisch nach Luft. Sein ganzer Körper wurde durchgeschüttelt, als stünde er unter Strom. Da sie die Geräusche, die er dabei machte, nicht hören konnte, wirkte das Ganze auf sie so, als würde sie auf einer Leinwand einen Stummfilm betrachten. Oder eine groteske Pantomime.
Als er ganz nahe an der Scheibe stand, nahm der Pfleger die Hand weg. Simone erschrak, als sie unterhalb seines Adamsapfels einen Schnitt sah, der quer über seinen Hals verlief und aus dem Blut hervorquoll. Es war ein gerader, präziser Schnitt, der aller Wahrscheinlichkeit nach mit einem Skalpell ausgeführt worden war. Blut strömte nun auch aus seinem Mund und spritzte gegen die Glasscheibe, und er begann zu husten.
Simone stieß einen Schrei aus und taumelte zurück. Sie sah, wie er sie verzweifelt anblickte und die Augen weit aufriss – dann prallte er mit dem Kopf gegen die Scheibe und stürzte zu Boden. Simone hatte keine Sekunde Zeit, darüber nachzudenken, was dem Mann geschehen sein könnte, denn durch die Tür traten in dem Moment ein Mann und eine Frau. Sogleich erinnerte sie sich an das, was Naomi ihr über Johanna Wedkind erzählt hatte. Genau wie bei der alten Dame waren die Körper der beiden leicht nach links gebeugt, und ihr Aussehen hatte sich offenkundig durch das Virus grässlich verändert. An der Klinge des Skalpells, das der Mann in seiner rechten Hand hielt, lief Blut herunter und tropfte auf den Boden.
Die beiden schritten auf sie zu.
Es war nicht mehr als ein dumpfes Pochen, das Simone vernahm, als die beiden voller Wut mit ihren Fäusten auf die Glasscheibe einhämmerten.
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In kürzester Zeit hatte Mahler mit dem Stab an Mitarbeitern die PR-Maschinerie angeworfen. Die Journalisten vom Express Berlin hatten sofort zugesagt, den Bürgermeister in das unter Quarantäne gestellte Gebäude zu begleiten. Es wurde ein Deal ausgehandelt: Man würde Weinert am nächsten Tag groß auf die Titelseite des Blattes setzen – als zupackenden Macher und unerschrockenen Retter in der Not, den nicht einmal die Gefahr zurückschreckte, sich selbst mit dem Virus zu infizieren.
Dafür, dass der Express Berlin den Zuschlag für den Exklusivbericht bekommen hatte, war verbindlich vereinbart worden, dass keinerlei Details über die Zustände und die Zahl der Erkrankten im Gebäude veröffentlicht werden durften. Nicht, bevor die zuständigen Stellen im Rathaus es absegneten. Mahler informierte auch andere Presseorgane, Online-Dienste sowie Fernseh- und Radiosender über die Aktion des Bürgermeisters. Es galt, dafür zu sorgen, dass die Medien so umfangreich wie nur möglich über das entschlossene Vorgehen des Bürgermeisters berichteten.
Für die Kampagne konnte man auf gewisse Erfahrungswerte zurückgreifen.
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