Pandaemonium - Die Letzte Gefahr
Große öffentliche Auftritte in Krisengebieten waren schon von anderen Politikern medienwirksam in Szene gesetzt worden und hatten gezeigt, dass man damit Wahlen gewinnen konnte. Nach außen getragene Emotionen, ein Bürgermeister, der sich im Katastrophengebiet als Tröster hervortat und keine Berührungsängste mit der Bevölkerung hatte – das war mehr wert als eine millionenschwere Wahlkampagne.
Dass dieses Kalkül aufgehen würde, zeigte sich gleich zu Beginn: Als vor der Absperrung des Plattenbaus der Mercedes anhielt und Weinert sowie ein Sicherheitsbeamter ausstiegen, wurden sie von einem Blitzlichtgewitter der Fotografen empfangen. Weinert hatte nicht wie sonst seinen schicken, maßgeschneiderten dunklen Anzug an, sondern trug heute eine dunkle Freizeitjacke, dazu eine braune Cordhose und einen beigen, unauffällig wirkenden Lambswool-Pullover: Er wollte als Mensch und nicht als steifer Anzugträger erscheinen. Und wenn er nachher mit Naomi sprechen würde, wollte er Nähe und nicht Distanz schaffen.
»Herr Weinert, was hat Sie zu dem Entschluss bewogen, zu den Menschen ins Gebäude zu gehen?«, fragte ein Reporter und hielt ihm ein Mikrofon unter die Nase.
Weinert setzte ein besorgt-sanftes Lächeln auf und antwortete: »Es ist mir ein persönliches Anliegen, mir die Sorgen und Nöte der Menschen im Gebäude anzuhören, bei ihnen um Vertrauen zu werben und sie noch etwas um Geduld zu bitten.«
»Sie werden das Mädchen treffen, das Sie in einem persönlichen Appell um Hilfe gebeten hat? Was werden Sie dem Mädchen sagen? Was können Sie ihr konkret anbieten?«
»Ich kann ihr keine schnelle Lösung versprechen. Aber ich kann ihr versprechen, dass wir sie und die anderen Bewohner so schnell wie möglich aus dem Gebäude holen werden, nachdem wir die Gefahren für die Bevölkerung sorgfältig abgewogen haben und eine weitere Ansteckungsgefahr ausschließen können.«
Nach diesem Statement wollte er keine weiteren Fragen mehr beantworten und stieg zusammen mit dem Sicherheitsbeamten zurück in den Wagen, in dessen Fond sein Referent Sebastian Mahler saß. Ein Polizist öffnete die Absperrung und ließ den Mercedes sowie den Kleinwagen hinter ihm – ein Fotograf und ein Reporter vom Express Berlin befanden sich absprachegemäß darin – auf das Gelände fahren, wo sie unmittelbar vor dem Schutzzaun parkten.
Zwei Männer vom Katastrophenschutz warteten dort bereits auf sie. »Guten Tag, Herr Bürgermeister«, sagte einer der Männer und lächelte freundlich. »Jeder, der das Gebäude betritt, muss Schutzkleidung anziehen. Die Vorschriften besagen, dass –«
»Schon gut«, unterbrach Weinert ihn barsch und entriss ihm einen der mitgebrachten Schutzanzüge aus den Händen. »Wird zwar auf dem Foto beschissen aussehen, wenn ich in so einem Raumanzug nachher mit dem Mädchen spreche. Aber ich will mich ja nicht anstecken, nicht wahr?«
»Ganz genau, Herr Weinert. Das dürfen wir auf gar keinen Fall riskieren«, pflichtete Mahler ihm bei, aus dessen Stimme man Nervosität und Dienstbeflissenheit gleichermaßen heraushören konnte, während er wie die anderen in die Anzüge hineinschlüpfte. Er schluckte einmal und versuchte, sich seine Furcht nicht anmerken zu lassen. Dann fuhr er fort: »Bleiben Sie nachher im Gebäude bitte alle hinter Frenzen, und geben Sie auf mögliche Gefahren Acht. Wir wissen nicht, wie viel Menschen sich mittlerweile dort drinnen mit dem Virus infiziert haben.«
Sie folgten dem Sicherheitsbeamten durch die in den Zaun eingelassene Tür und gingen dann zum Hauseingang, neben dem zwei Polizisten mit Gewehren standen. Die Bretter, mit denen man die Fenster und die Tür verbarrikadiert hatte, waren entfernt worden. Einer der Polizisten öffnete die Tür, trat zur Seite und ließ Weinert und seine Entourage ins Gebäude hinein passieren.
»Welche Etage?«, fragte Weinert seinen Referenten, der sich direkt neben ihn in den Fahrstuhl stellte.
»Die zweiundzwanzigste Etage«, antwortete Mahler. Der Aufzug setzte sich in Bewegung, und sie rauschten nach oben.
Als sie vorsichtig die Wohnungstür öffnete, schreckte Naomi beim Anblick der fünf Gestalten in ihren Schutzanzügen zusammen.
»Keine Angst, ich bin Karl Weinert, der Regierende Bürgermeister von Berlin«, begrüßte sie einer der Männer. Seine Stimme hinter dem Plastikvisier des Helms klang dumpf. »Wie du siehst, habe ich mein Versprechen gehalten, und hier bin ich. Dürfen wir hereinkommen?« Er lächelte
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