Pandaemonium - Die Letzte Gefahr
»Verstanden?«
Paul nickte.
»Nach zwei Stunden ist der Nächste dran …« Jimmy drehte seinen Kopf zu Witter. »Du, alter Mann, kannst durchschlafen.« Jimmy wollte sein Leben nicht in die Hände eines alten Spinners legen, auch wenn die Alternativen – zwei Halbwüchsige und ein Alkoholiker – nicht allzu viel besser waren. Aber er konnte schließlich nicht die ganze Nacht alleine Wache schieben.
Um sicherzugehen, dass keine weiteren Gefahren im Laden auf sie lauerten, überprüfte Jimmy noch die restlichen Räume der Apotheke – das Büro, einen Lagerraum, das Labor, das Nachtdienstzimmer und eine Abstellkammer. Dann schlugen sie ihr Nachtlager auf. Jimmy teilte Witter zwei Decken als Unterlage zu, die anderen bekamen jeweils eine.
Naomi wunderte sich über die Entwicklung, die der Dealer in den letzten Tagen durchzumachen schien. Er zeigte doch tatsächlich so etwas wie Fürsorge, oder etwa nicht?
Paul stellte einen Stuhl, den sie aus dem Büro besorgt hatten, ans Schaufenster, setzte sich und schaute hinaus. Die Waffe ruhte auf seinem Schoß. Rafael legte sich neben Naomi auf den Boden.
»Hast du mitbekommen, wohin sie meine Mutter gebracht haben?«, fragte sie Rafael.
Er drehte seinen Kopf zu Naomi. »Nein. Tut mir leid. Als ich das letzte Mal mit ihr telefoniert habe, ist im Hintergrund ein Mann zu hören gewesen, der etwas von einer Untersuchung gesagt hat.«
Naomi hatte plötzlich eine Idee: »Vielleicht haben sie sie auf die Seuchenstation auf dem Campus des Virchow-Klinikums gebracht.«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Dort wurden doch auch die ersten Infizierten eingeliefert.«
»Ist eine Möglichkeit. Die Seuchenstation wurde aber dichtgemacht, kurz nachdem sie deine Mutter weggebracht hatten. Das haben sie zumindest im Radio gesagt.«
»Wieso?«
»Die Zahl der Erkrankungen stieg plötzlich rapide an. In einem Fernsehbericht hieß es, dass sie dort nicht genügend Betten für die große Anzahl der Infizierten bereitstellen könnten.«
»Haben die eigentlich irgendeine Ahnung, was das für ein Virus ist?«
»Soweit ich weiß, nein.«
»Dann wird es auf längere Sicht auch keinen Impfstoff geben.«
Danach schwiegen sie betroffen. Naomi starrte noch eine ganze Weile an die Decke, bis sie schließlich einnickte. Sie schlief sehr unruhig und schreckte jedes Mal hoch, wenn sie ein Geräusch hörte, auch wenn es lediglich das Klacken der Heizung oder das Knarzen der alten Dielen war.
In den frühen Morgenstunden war sie an der Reihe, Wache zu halten. Jimmy weckte sie gähnend, drückte ihr die Waffe in die Hand und legte sich auf seine Decke. Naomi rieb sich den Schlaf aus den Augen und setzte sich auf den Stuhl vor dem Fenster.
Zum ersten Mal in diesem Jahr sah Naomi, wie Schnee fiel. Erst waren es nur einige wenige Flocken, dann kamen immer mehr. Ein Windstoß wirbelte Schnee durch das zerbrochene Schaufenster in den Laden hinein, und einige Flocken fielen auf Naomis Gesicht, wo sie aufgrund der Körperwärme sofort schmolzen. Der Schnee in seiner weißen Unschuld hatte etwas Reinigendes, und sie spürte die Kälte der Nacht und des nahenden Winters kaum. Auch wenn es völlig irrational war, keimte kurz die Hoffnung in ihr auf, dass nach einigen Tagen Schneefall der ganze Spuk vielleicht vorüber und das Grauen unter einer dicken Schneedecke begraben sein würde. In knapp vier Wochen war Weihnachten, und da erfüllten sich bekanntlich Wünsche. Die dritte Strophe des Kinderlieds Schneeflöckchen, Weißröckchen kam ihr kurz in den Sinn, das ihre Eltern immer mit ihr gesungen hatten, wenn im Advent der erste Schnee gefallen war. Damals, als sie noch alle eine glückliche Familie waren.
Schneeflöckchen, du deckst uns die Blümelein zu,
dann schlafen sie sicher in himmlischer Ruh’ .
Nach der Trennung, alleine mit ihrer Mutter, das »Fest der Liebe« zu feiern war eine todtraurige Angelegenheit gewesen; und sie hatte sich nichts Sehnlicheres gewünscht, als dass die besinnlich-depressiven Tage schnell vorübergingen. In diesem Augenblick jedoch war es ihr größter Wunsch, Weihnachten mit ihrer Mutter verbringen zu dürfen.
47
Der fallende Schnee bildete schnell eine dicke weiße Wand, hinter der die breite Allee, die Bäume und die Straßenlaternen verschwanden.
Ab und an meinte Naomi, Schatten wahrzunehmen, die sich zwischen den Schneewehen bewegten, und sie war kurz davor, die anderen zu wecken. Aber dann verschwanden diese Schatten genauso schnell wieder, wie sie aufgetaucht
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