Pandaemonium - Die Letzte Gefahr
voraussichtlich benötigen würde, zurück in den Verkaufsraum kam, erlaubte sich Jimmy einen schalen Witz.
»Ihr Patient, Schwester«, erklärte er.
»Hilf mir, den Pfeil rauszuziehen«, bat Naomi ihn. »Du hast mehr Kraft als ich.«
»Kein Problem«, erklärte er und stellte sich neben Rafaels Bein.
»Hey, aber vorsichtig!«, rief Rafael ängstlich, der offenbar wenig Vertrauen in Jimmys medizinische Fähigkeiten besaß.
»Schon verstanden, keine Angst«, antwortete Jimmy – und mit einem Ruck zog er den Pfeil aus dem Fleisch.
Rafael schoss hoch und brüllte laut auf. Blut quoll aus der Wunde und lief an beiden Seiten herunter. Mit einer Schere schnitt Naomi das Hosenbein ab, sprühte Desinfektionsmittel auf die Wunde und betupfte sie. Anschließend legte sie einen Druckverband an und stoppte so die Blutung. Witter hatte in der Zwischenzeit einen Plastikbecher mit Wasser gefüllt und hielt ihn Rafael zusammen mit dem Antibiotikum und einer Schmerztablette hin. Nachdem er beides geschluckt und sich ein wenig ausgeruht hatte, halfen Jimmy und Paul ihm wieder vom Tresen herunter.
»In einer halben Stunde ist es finster«, sagte Paul, der sich ans Fenster stellte und hoch zum Himmel schaute, der langsam dunkler wurde. »Entweder bleiben wir bis morgen hier, oder wir versuchen, uns bis zu einem der Checkpoints durchzuschlagen.«
»Und du glaubst, wir können da einfach so auftauchen und aus der Seuchenzone rausspazieren?«, fragte ihn Jimmy. Der Sarkasmus in seiner Stimme war nicht zu überhören.
»Soweit ich das beurteilen kann, sind wir alle hier nicht krank.« Paul schaute in die Gesichter der anderen, so als müsse er sich dessen erst vergewissern. »Warum sollten sie uns nicht rauslassen?«
»Weil sie uns auch nicht aus der Platte haben gehen lassen. Schon vergessen, Alki?«, höhnte Jimmy.
Paul warf ihm einen bösen Blick zu.
»Vielleicht klappt es nicht«, warf Naomi ein. »Aber vielleicht haben wir ja doch eine Chance. Wenn nicht, können wir uns immer noch etwas anderes überlegen.«
Jimmy entgegnete darauf nichts und griff nach einer der Packungen Kaugummi, die auf einem Ständer lagen.
»Wir sollten heute Nacht hierbleiben«, riet Witter. »Draußen ist es zu gefährlich.«
Alle blickten aus dem Fenster. Der Himmel war inzwischen fast schwarz, und in jeder Hausnische konnte irgendeine Gefahr auf sie lauern. Daher beschlossen sie, Witters Vorschlag zu folgen und die Nacht in der Apotheke zu verbringen.
Paul fand in einem kleinen Kühlschrank in der Küche sogar etwas Essbares, das er nach vorne in den Laden brachte. Witter entdeckte in einem Schrank mehrere Notfalldecken, die sie zum Schlafen nutzen konnten. Jimmy stand die ganze Zeit am Fenster und spähte mit angespanntem Gesichtsausdruck hinaus in die Finsternis.
Nach einer Weile ging Naomi nach hinten, weil sie die Toilette benutzen musste. Als sie vor der Tür zum Bad stand, fiel ihr auf, dass der Schlüssel merkwürdigerweise außen steckte. Sie drückte ihr Ohr an die Badezimmertür und konnte hören, wie etwas Leichtes, vielleicht eine Zahnbürste oder der Deckel einer Cremedose, auf die Fliesen fiel. Sie klopfte vorsichtig gegen die Tür und rief: »Hallo, ist da jemand drin?«
Niemand antwortete.
Sie lauschte erneut. Nichts.
Kurz dachte sie nach. Vielleicht wäre es besser, wenn sie die Tür nicht öffnete, sondern erst Jimmy holte, damit der ihr notfalls zur Seite stehen konnte. Doch ihre Neugierde war stärker, und so drückte sie die Klinke herunter. Zu ihrer Verwunderung ging die Tür nicht auf; sie war offenbar von außen abgeschlossen worden. Naomi drehte langsam den Schlüssel herum.
In dem Moment, als sie den Griff ein zweites Mal herunterdrückte und die Tür sich ins Bad hinein öffnete, fuhr ihr der Gedanke durch den Kopf, dass sie möglicherweise gerade einen großen Fehler begangen hatte. Ihr bot sich ein bizarrer, grausamer Anblick: Im Licht einer grellen Neonröhre saß auf dem zugeklappten Toilettendeckel Hannelore Adler, den Kopf leicht zur Seite geneigt. Strähnen ihres grauen Haares, das sie sonst immer zu einem Dutt hochgesteckt hatte, hingen ihr ins Gesicht. Früher hatte sie immer großen Wert darauf gelegt, dass alles den höchsten hygienischen Standards entsprach, wie es sich für eine gute Apothekerin gehörte. Jetzt war ihr schneeweißer Apothekerkittel dreckig und von Blutspritzern übersät. Auf dem Boden vor ihr lagen mehrere leere Tablettenschachteln und -röhrchen sowie ein halbes Dutzend
Weitere Kostenlose Bücher