Pandaemonium - Die Letzte Gefahr
Virus infiziert, wie so viele andere in Mitte.«
Er senkte den Kopf und kämpfte mit den Tränen. Naomi legte den Arm um ihn und drückte ihn fest an sich.
»Und dein Vater?«, fragte sie nach einer Weile.
»Vater begann, sich auch auf seltsame Weise zu verwandeln. Dann war er plötzlich verschwunden. Keine Ahnung, wohin er gegangen und was mit ihm passiert ist.«
»Oh, mein Gott. Das tut mir alles so leid.« Naomi musste in dem Moment an ihren eigenen Vater denken. Sie konnte nachempfinden, was Rafael durchmachte. Und sie dachte an ihre Mutter und betete, dass sie noch lebte.
»Was ist hier genau passiert?«, wollte Jimmy wissen.
»Nachdem das Virus sich in ganz Mitte ausgebreitet hat, haben sie die Gesunden über den wieder eröffneten Checkpoint Charlie evakuiert, Mitte zur Seuchenzone erklärt und mit einem Stacheldrahtzaun abgeriegelt.«
»Wie viele haben sich denn mittlerweile mit dem Virus infiziert?«
»In der Presse stand etwas von über zehntausend Infizierten.«
»Wie furchtbar!«, rief Naomi und schaute Rafael entsetzt an. »Warum bist du nicht auch gegangen?«
»Es gab eine Deadline. Alle, die zu spät an den Checkpoint kamen, durften nicht mehr heraus. Außerdem wollte ich nicht gehen, sondern nach dir suchen … Ich wusste, dass du noch lebst.« Bei diesen Worten schaute er Naomi so zärtlich an, dass es sie fast zu Tränen rührte. Sanft streichelte sie ihm über die Schulter.
Sogleich zerstörte Jimmy die romantische Stimmung. »Wir haben jetzt keine Zeit für Sentimentalitäten«, erklärte er, ließ seinen Blick durch die Gegend schweifen und sah dann wieder den Jungen an. »Weißt du, ob es irgendwo ein Schlupfloch raus aus der Seuchenzone gibt?«
Rafael schüttelte den Kopf. »Es gibt verschiedene Durchlassstellen im Zaun, aber die werden alle strengstens bewacht.«
»Dann werden wir alle sterben«, folgerte Paul. Es klang nicht weinerlich, sondern wie eine sachliche Feststellung.
Witter, der neben ihm stand, blickte die lange Allee hinunter und hob dann seinen Kopf hoch zu den dunklen Wolken am Himmel, die sich wie eine bedrohliche schwarze Wand auf sie zuschoben.
»Wir müssen den Pfeil entfernen und deine Wunde versorgen, bevor sie noch zu eitern anfängt«, sagte Naomi und sah Rafael dabei an.
»Damit hast du ja bereits Erfahrung.« Jimmy meinte seine Verletzung, um die sich Naomi gekümmert hatte, und setzte ein schmales Lächeln auf.
»Da drüben ist eine Apotheke.« Naomi zeigte zu einem alten Gebäude auf der anderen Straßenseite, das sich in der Nähe des Eingangs zur U-Bahn-Station befand. Ein Gerüst stand davor, weil die denkmalgeschützte Fassade renoviert wurde.
Die Dämmerung setzte bereits ein, und die Straßenlaternen gingen an. Man hatte Berlin-Mitte offensichtlich noch nicht völlig abgeschaltet, dachte Jimmy. Oder sie haben es einfach vergessen …
Naomi und Paul nahmen Rafael in ihre Mitte und stützten ihn, während sie langsam über die vierspurige Straße zur Apotheke gingen. Witter folgte ihnen. Dicht dahinter war Jimmy, der die Umgebung im Auge behielt.
Alte Apotheke prangte in gebrochener roter Schrift über dem Schaufenster, das mit Nasensprays und Erkältungsmitteln dekoriert war. Vor der Ladentür war ein Gitter heruntergelassen worden. Die Alte Apotheke war schon seit hundert Jahren in Familienbesitz; in vierter Generation arbeitete dort das Ehepaar Adler. Naomi kannte die beiden recht gut, auch wenn sie noch nicht lange hier wohnte. Sie und ihre Mutter hatten dort oft eingekauft, wenn sie Medikamente benötigten.
Heute waren die Adlers jedoch nicht im Laden, wie Naomi mit einem Blick durch das Schaufenster in den Verkaufsraum feststellte. Das Innere lag weitgehend im Dunkeln, einzig eine Notbeleuchtung erhellte ein wenig den Tresen aus Eichenholz, auf dem eine Messingwaage aus dem neunzehnten Jahrhundert und eine alte schwarze Kasse standen.
Jimmy nahm eine Schaufel von der kleinen Baustelle vor dem Haus und schlug damit mehrmals gegen die Scheibe, bis sie zerbrach. Dann kletterten sie nacheinander über die Auslage in den Laden. Rafael schluchzte dabei mehrmals auf, obwohl Paul und Naomi ihn vorsichtig stützten, damit er sein verletztes Bein nicht zu sehr belastete.
Während Jimmy und Paul dem verletzten Jungen halfen, sich auf den Tresen zu legen, ging Naomi in die hinteren Räume. Sie zog Schubladen heraus und suchte darin nach Desinfektionsmitteln, Verbandszeug, Antibiotika und Schmerztabletten. Als sie mit allem, was sie
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