Pandaemonium - Die Letzte Gefahr
Kutsche, bis wir was Besseres gefunden haben«, sagte Jimmy. »Steigt ein!«
Die anderen verstanden sofort, dass es auf so einem Gefährt sicherer und schneller voranging als zu Fuß. Jimmy setzte sich auf den Kutschbock und nahm die Zügel in beide Hände, während die anderen den Schnee von den Sitzen wischten, bevor sie sich niederließen.
»Weißt du überhaupt, wie man so ein Gespann lenkt?«, wollte Naomi von Jimmy wissen.
»Keine Ahnung. Aber wie schwer kann das schon sein?«
Forsch schlug er mit den Zügeln auf die Rücken der Pferde. Das war aber wohl zu fest gewesen, denn die Tiere wieherten nervös. Mit einem unsanften Ruck setzte sich die Kutsche in Bewegung. Jimmys anfängliche Probleme, die Pferde sicher zu führen, verschwanden jedoch schnell, und bald schon lenkte er den Wagen gekonnt über den großen Boulevard. Jimmy trieb die Tiere nicht übermäßig schnell an, sondern ließ sie in einem gemächlichen Tempo auf das Brandenburger Tor zulaufen. Die Stille wurde nur von dem gedämpften Traben der Hufe auf der Schneedecke, dem Schnauben der Pferde und dem Klimpern der Glöckchen an der Kutsche unterbrochen. Wären sie nicht durchs sterbende Berlin gerollt, hätte man sich die Kutschfahrt gut in einer romantisch verschneiten Winterlandschaft in Österreich oder der Schweiz vorstellen können.
Sie erreichten die Ecke Friedrichstraße, in der sich viele Repräsentanzen namhafter Luxusbekleidungsmarken und etliche Ausstellungsräume bekannter Autohersteller befanden. In der Regel gab es dort viel Verkehr auf der Straße, und es herrschte reges Treiben in den Geschäften. Jetzt fuhr kein einziges Auto mehr, und kein Mensch war weit und breit zu sehen. Ganz offensichtlich war es auch zu Plünderungen gekommen. Etliche Schaufenster waren eingeschlagen, und auf den Gehwegen davor lagen große Glasstücke verstreut, die vom Schnee schon fast vollständig zugedeckt waren. Vor der Auslage eines bekannten Herstellers von Luxusartikeln stand eine Ledertasche, welche die Räuber wohl auf der Flucht vergessen hatten. Jimmy musste die Kutsche anhalten, weil ein größerer Geländewagen quer auf der Fahrbahn stand und ihnen den Weg versperrte.
Naomi blickte in die Friedrichstraße hinein und meinte in der Nähe eines Laternenpfahls eine Gestalt zu erkennen. Aufgrund des trüben Lichts und des Schnees, der gerade wieder einsetzte, war sie sich aber nicht sicher. Der Schatten bewegte sich unvermittelt, als Jimmy die Pferde auf die gegenüberliegende Spur lenkte, die eigentlich für den Verkehr in die andere Richtung vorgesehen war. Naomi erkannte nun an der Statur und Frisur, dass es sich um eine Frau handeln musste. Sie hatte ihren Kopf einer Seitenstraße zugewandt. Es dauerte nicht lange, bis Naomi sah, was die Aufmerksamkeit der Frau erregte. Erst tauchte einer auf, dann noch ein anderer – und schließlich eine ganze Horde Infizierter, die auf die Friedrichstraße strömte.
»Seht, da!«, rief Naomi aufgeregt.
Die anderen drehten ihre Köpfe herum und schauten entsetzt, als sie sahen, worauf Naomi deutete. Jimmy hielt sofort die Kutsche an. Die Pferde begannen, nervös mit ihren Hufen auf der Stelle zu treten, so als spürten sie die Gefahr.
Die Frau ging in der Menge der Infizierten unter, die immer größer wurde. Aus allen möglichen Richtungen strömten sie herbei und kamen auf die Kutsche zu. Bei einigen war die Kleidung voller Blut, und etliche hatten tiefe Wunden im Gesicht und an den Extremitäten. Bei einem Mann war der rechte Arm total zerfetzt, so als sei mit einer Schrotflinte auf ihn geschossen worden. Einer Frau fehlten ein Ohr und ein Auge, bei einem jungen Mädchen war es fast das halbe Gesicht. Naomi mochte sich gar nicht ausmalen, wie das alles passiert war.
Das laute, knirschende Geräusch, verursacht von den vielen Füßen, die über den Schnee trampelten, schwoll an wie das Crescendo einer Kriegstrommel. Und es drang nicht nur aus dieser Richtung an ihr Ohr, sondern kam inzwischen auch von der anderen Seite der Friedrichstraße: Von dort näherte sich ihnen ebenfalls eine große Menge Infizierter.
48
Jimmy riss den Kopf herum und blickte zum Brandenburger Tor. Bis dorthin waren es nur noch wenige Hundert Meter!
Er peitschte mit den Zügeln die Rücken der Pferde, die laut aufwieherten, bevor sie losliefen. Schnell rollte die Kutsche davon. Kurz bevor sie das Brandenburger Tor erreichten, drehten sich Naomi und die anderen noch einmal um und sahen, wie die Meute von beiden Seiten
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