Pandaemonium - Die Letzte Gefahr
Bäuche extrem stark aufgebläht waren. Naomi beobachtete, wie eine gegen den Bug eines Ausflugsdampfers stieß, der an der Anlegestelle am Ufer lag. Auch auf den Gehwegen lagen Tote, die das Virus dahingerafft hatte. Andere lagen in ihrem eigenen Blut: Das mussten Opfer sein, die im Kampf gegen die Infizierten gestorben waren. Ein Windstoß wirbelte Pulverschnee von den Gesichtern einiger Leichen auf und legte ihre weit aufgerissenen Augen frei, in denen sich ein Ausdruck des Entsetzens eingebrannt hatte, so als sei ihnen das ganze Ausmaß ihres entsetzlichen Schicksals erst in den letzten Augenblicken vollends bewusst geworden.
Die Gruppe marschierte am Lustgarten vor dem Alten Museum vorbei über die Schlossbrücke, die in den Prachtboulevard Unter den Linden überging. Weihnachtsmusik war letztes Jahr noch aus den Lautsprechern der festlich erleuchteten Weihnachtsbuden von der anderen Straßenseite herübergeklungen. Naomi erinnerte sich daran, dass sie und ihre Mutter sich über den singenden Elchkopf amüsiert hatten, der über dem Glühweinstand gewesen war und unentwegt I wish you a merry Xmas geträllert hatte. Jetzt wirkte der Weihnachtsmarkt wie eine Geisterstadt.
Gewöhnlich erstrahlte die Flaniermeile jedes Jahr vom weihnachtlichen Glanz der Lichterketten, die man an den zweihundertsiebzig Linden zwischen Bebelplatz und Brandenburger Tor anbrachte. Jetzt wurde der Boulevard nur spärlich von einigen vereinzelten Straßenlaternen beleuchtet, und die großen Schaufenster der Geschäfte waren dunkel.
»Direkt hinter dem Brandenburger Tor verläuft der Zaun, und da ist auch die Durchlassstelle«, teilte Rafael ihnen mit und blieb stehen. Er rieb mit Schmerzen im Gesicht vorsichtig über die Beinwunde und schaute in die Ferne, wo sich am Ende des Boulervards die Silhouette des Brandenburger Tors abzeichnete. »Sie haben dort bewaffnete Posten aufgestellt.«
»Sie werden bestimmt sehen, dass wir nicht infiziert sind«, meinte Naomi.
»Sei nicht so naiv, Mädchen!«, entgegnete Jimmy. »Ich hab euch schon gesagt, dass das eine Scheißidee ist. Die lassen nicht mit sich verhandeln. Die knallen uns ab, sobald wir uns dem Zaun nähern.«
»Und warum kommst du dann überhaupt mit uns zu der Absperrung, wenn das alles keinen Sinn macht?« Paul hatte endgültig genug von Jimmys negativer Einstellung und seinem patzigen Gehabe. Er stemmte die Arme in die Hüften, beugte den Kopf wie ein Stier auf, der kurz davor war, zum Angriff überzugehen, und sagte laut: »Weil du wahrscheinlich auch keine bessere Idee hast, Mr. Ich weiß alles besser . Was ist denn dein Vorschlag, du Vollidiot?«
»Fick dich, Schwanzlutscher!«, entgegnete Jimmy, ballte seine Fäuste und wollte sich schon auf ihn stürzen, aber Naomi stellte sich zwischen die beiden.
»Hey, lasst das!«, schrie sie. »Beruhigt euch wieder! Wir brauchen alle einen klaren Kopf, wenn wir hier rauskommen wollen!«
Die beiden Männer beruhigten sich langsam wieder.
Jimmy schnaufte einmal laut durch die Nase aus, bevor er sagte: »Lasst uns weitergehen.« Seine Stimme verriet, dass die Wut auf Paul noch nicht verflogen war.
Die Gruppe ging weiter an der Humboldt-Universität vorbei. Sie kamen nur langsam voran, denn Witter merkte man das Alter und den Schlafmangel jetzt deutlich an, Paul wirkte zunehmend fahrig – wohl eine erste Folge des Alkoholentzugs –, und Rafael machte die Wunde am Bein zu schaffen.
Es war zwar nicht mehr allzu weit bis zum Brandenburger Tor, doch Naomi beschlich ein ungutes Gefühl bei dem Gedanken, dass zwischen den Bäumen, den Geschäftseingängen und den Seitenstraßen auf dem Weg dorthin unzählige Gefahren auf sie lauern konnten. Mit Ausnahme von Jimmy waren ihre Gefährten nicht in der Verfassung, sich bei einem Überraschungsangriff zur Wehr zu setzen …
Plötzlich bemerkte Naomi etwas und rief: »Seht da!«
Sie hatte ihren Kopf nach rechts gedreht und zeigte auf eine Kutsche in einer Seitenstraße. Zwei braune Pferde waren eingespannt. Sie erinnerte sich daran, dass es rund um das Brandenburger Tor Unternehmen gab, die den Touristen romantische Kutschfahrten anboten.
Naomi und die anderen liefen zu den Pferden. Sie konnten nur vermuten, wie lange die Tiere da schon standen und kein Futter mehr bekommen hatten. Naomi holte aus ihrem Rucksack Kekse, die sie den Tieren vor die Schnauze hielt. Sie musste aufpassen, dass die Pferde ihr nicht in die Hand bissen, so gierig schnappten sie nach dem Backwerk.
»Wir nehmen die
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