Pandemonium
den Tisch. »So funktioniert das nicht.«
Ich kann spüren, wie sie versucht, mich zum Nachgeben zu bringen, sie möchte, dass ich mich setze und es verstehe. Aber das kann und werde ich nicht.
»Und was ist mit Julian?« Ich zwinge mich dazu, sie anzusehen, und ich meine wahrzunehmen, wie sie leicht zusammenzuckt.
»Er ist nicht dein Problem.« Ravens Stimme wird etwas schärfer.
»Nein?« Ich denke daran, wie Julian mit den Fingern durch mein Haar gestrichen hat, an die einhüllende Wärme seiner Arme, daran, wie er geflüstert hat: Ich will es wissen. Ich möchte es mit dir erfahren. »Und was, wenn ich ihn zu meinem Problem machen möchte?«
Raven und ich starren uns an. Sie verliert langsam die Geduld. Ihr Mund ist zu einem wütenden, verkniffenen Strich verzogen. »Das kannst du nicht«, sagt sie knapp. »Kapierst du das nicht? Lena Morgan Jones gibt es nicht mehr. Paff. Sie ist weg. Es gibt keinen Weg zurück für sie. Es gibt keinen Weg zurück für dich. Dein Job ist erledigt.«
»Das heißt, wir lassen zu, dass Julian umgebracht wird? Oder ins Gefängnis geworfen?«
Raven seufzt erneut, als wäre ich ein verzogenes Kind, das einen Wutanfall hat. »Julian Fineman ist der Vorsitzende des Jugendverbands der VDFA …«, beginnt sie erneut.
»Das weiß ich alles«, fahre ich sie an. »Du hast es mich auswendig lernen lassen, schon vergessen? Na und? Er wird für die Sache geopfert?«
Raven sieht mich schweigend an: Zustimmung.
»Ihr seid genau wie sie«, presse ich durch die Enge der Wut in meiner Kehle hervor, am schweren Stein des Abscheus vorbei. Das ist auch das Motto der VDFA: Einige werden für das Wohl der Allgemeinheit sterben. Wir sind geworden wie sie.
Raven steht wieder auf und geht in Richtung Flur. »Du darfst dich nicht schuldig fühlen, Lena«, sagt sie. »Das hier ist Krieg, weißt du.«
»Kapierst du das nicht?«, schleudere ich ihr dieselben Worte entgegen, die sie mir gegenüber vor langer Zeit ausgesprochen hat, damals beim Unterschlupf, nach Miyakos Tod. »Du hast mir nicht zu sagen, wie ich mich fühlen soll.«
Raven schüttelt den Kopf. Ich sehe Mitleid in ihrer Miene. »Du … du hast ihn also wirklich gemocht? Julian?«
Ich kann nicht antworten. Ich kann nur nicken.
Raven reibt sich müde die Stirn und seufzt erneut. Ich glaube schon, sie wird nachgeben. Sie wird mir helfen. Ich verspüre einen Anflug von Hoffnung.
Aber als sie mich wieder ansieht, ist ihr Gesichtsausdruck gefasst, emotionslos. »Wir brechen morgen nach Norden auf«, sagt sie einfach und damit ist das Gespräch beendet. Julian landet für uns am Galgen und wir werden lächeln und vom baldigen Sieg träumen – einem verschwommen roten Sieg, einer blutigen Morgendämmerung.
Der Rest des Tages ist Nebel. Ich treibe von Raum zu Raum. Gesichter wenden sich mir zu, erwartungsvoll, lächelnd, und wenden sich wieder ab, wenn ich nicht reagiere. Das müssen weitere Mitglieder der Widerstandsbewegung sein. Ich erkenne nur einen von ihnen, einen Typen in Tacks Alter, der mal zur Zuflucht gekommen ist, um uns unsere neuen Personalausweise zu bringen. Ich halte Ausschau nach der Frau, die mich hergebracht hat, sehe aber niemanden, der ihr ähnelt, höre niemanden, der so spricht wie sie.
Ich lasse mich treiben und höre zu. Ich erfahre, dass wir dreißig Kilometer nördlich von New York sind und direkt südlich einer Stadt namens White Plains. Offenbar zapfen wir dort unseren Strom ab: Wir haben Lampen, ein Radio, sogar eine elektrische Kaffeemaschine. Einer der Räume ist voll mit Zelten und aufgerollten Schlafsäcken. Tack und Raven haben unsere Reise gut vorbereitet. Ich habe keine Ahnung, wie viele der anderen Widerständler sich uns anschließen werden; vermutlich werden zumindest einige hierbleiben. Abgesehen von dem Klapptisch und den Stühlen sowie zahlreichen Pritschen, die einen ganzen Raum füllen, gibt es keine Möbel. Das Radio und die Kaffeemaschine stehen direkt auf dem Betonboden, in ein Gewirr aus Kabeln gebettet. Das Radio läuft fast den ganzen Tag und quäkt leise durch die Wände – egal, wo ich hingehe, ich entkomme ihm nicht.
»Julian Fineman … Vorsitzender des Jugendverbands der Vereinigung für ein Deliria-freies Amerika und Sohn des Präsidenten der Organisation …«
»… selbst ein Opfer der Krankheit …«
Auf jedem Radiosender läuft das Gleiche. Sie erzählen alle dieselbe Geschichte.
»… heute entdeckt …«
»… momentan unter Hausarrest …«
»Julian …
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