Pandemonium
Wunder, dass sie uns geholfen haben. Sie wurden auch dafür bezahlt.
Das Schlucken fällt mir schwer. Es kostet mich all meine Kraft, auf den Beinen zu bleiben. Die Entführung, die Angst, die Leibwächter, die in der U-Bahn getötet wurden – die Schuld der Widerstandsbewegung. Unsere Schuld. Ein Test.
Raven spricht wieder, ihre Stimme ist von sanfter Dringlichkeit erfüllt: wie eine Verkäuferin, die einen dazu bringen will, etwas zu kaufen, kaufen, kaufen. »Du hast etwas Großartiges für uns vollbracht, Lena. Du hast der Widerstandsbewegung geholfen, mehr, als du dir vorstellen kannst.«
»Ich hab gar nichts getan«, schleudere ich ihr entgegen.
»Du hast unendlich viel getan. Julian war überaus wichtig für die VDFA. Ein Symbol für alles, wofür die VDFA steht. Der Vorsitzende des Jugendverbands. Das sind allein sechshunderttausend Leute, junge Leute, Ungeheilte. Ungefestigte.«
Urplötzlich gefriert mir das Blut in den Adern. Ich drehe mich langsam um. Tack und Raven sehen mich beide hoffnungsvoll an, als erwarteten sie, dass ich erfreut sein würde. »Was hat Julian damit zu tun?«, frage ich.
Und wieder wechseln Raven und Tack einen Blick. Diesmal kann ich darin lesen, was sie denken: Ich mache Schwierigkeiten, bin schwer von Begriff. Inzwischen sollte ich verstanden haben, worum es geht.
»Julian hat jede Menge damit zu tun, Lena«, sagt Raven. Sie setzt sich neben Tack an den Tisch. Sie sind die geduldigen Eltern, ich bin der problematische Teenager. Als würden wir hier über eine verhauene Klassenarbeit diskutieren. »Wenn Julian aus der VDFA raus ist, wenn er ausgeschlossen wird …«
»Oder noch besser, wenn er freiwillig austritt«, wirft Tack ein und Raven breitet die Hände aus, als wollte sie sagen: Natürlich .
Sie fährt fort: »Egal, ob er ausgeschlossen wird oder selbst austritt, es wäre auf jeden Fall ein starkes Signal an all seine ungeheilten Gefolgsleute, die zu ihm aufgesehen haben. Möglicherweise überdenken sie dann die Sache – zumindest einige von ihnen. Wir haben die Chance, sie auf unsere Seite zu ziehen. Denk mal darüber nach, Lena. Das reicht, um etwas auszulösen. Das reicht, um das Blatt zu unseren Gunsten zu wenden.«
Mein Verstand arbeitet langsam, als wäre er von Eis eingeschlossen. Die Razzia heute Morgen – sie war geplant. Dahinter stand die Widerstandsbewegung: Sie muss der Polizei und den Aufsehern einen Tipp gegeben haben. Sie haben die Lage eines ihrer eigenen Stützpunkte verraten, nur um Julian zu fangen.
Und ich habe dabei geholfen. Ich muss an das Gesicht seines Vaters denken, das in der Fensterscheibe der schwarzen Limousine schwebte: angespannt, verbissen, entschlossen. Ich muss daran denken, was Julian mir von seinem großen Bruder erzählt hat – wie sein Vater ihn verletzt in den Keller sperrte und ihn dort allein im Dunkeln sterben ließ. Und das nur, weil er an einer Demo teilgenommen hatte.
Julian hat mit mir im Bett gelegen. Wer weiß, wie sie ihn dafür bestrafen.
Schwärze steigt in mir auf. Ich schließe die Augen und sehe Alex’ und Julians Gesichter, die miteinander verschmelzen und sich dann wieder trennen wie in meinem Traum. Es geschieht erneut. Es geschieht erneut und es ist wieder meine Schuld.
»Lena?« Ich höre, wie ein Stuhl vom Tisch geschoben wird, und plötzlich steht Raven neben mir und legt mir einen Arm um die Schultern. »Ist alles in Ordnung?«
»Brauchst du irgendwas?«, fragt Tack.
Ich schüttele Ravens Arm ab. »Lass mich los.«
»Lena«, sagt Raven mit schmeichelndem Tonfall. »Komm, setz dich hin.« Sie streckt erneut die Hand nach mir aus.
»Ich hab gesagt, lass mich los.« Ich zucke vor ihr zurück, stolpere, stoße gegen einen Stuhl.
»Ich hol ein Glas Wasser«, sagt Tack. Er steht auf und geht in den Flur hinaus, der zum Rest der Lagerhalle führen muss. Einen Augenblick höre ich dort das Gespräch lauter werden, heiser, jemand grüßt Tack; dann Stille.
Meine Hände zittern so sehr, dass ich sie noch nicht mal zu Fäusten ballen kann. Ansonsten würde ich Raven vielleicht ins Gesicht schlagen.
Sie seufzt. »Ich kann verstehen, dass du wütend bist. Vielleicht hatte Tack Recht. Vielleicht hätten wir dich von Anfang an einweihen sollen.« Sie klingt erschöpft.
»Ihr … ihr habt mich benutzt«, stoße ich hervor.
»Du hast gesagt, du wolltest helfen«, sagt Raven einfach.
»Nein. So nicht.«
»Das kannst du dir nicht aussuchen.« Raven setzt sich wieder und legt die Hände flach auf
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