Pandemonium
sind, und um über ihren toten Körpern hart und unbekümmert neu zu entstehen, so wie Raven. Genau das tun die Zombies.
Aber ich nicht. Ich habe zu viele Dinge sterben lassen. Ich habe schon genug aufgegeben.
Die Eule schreit erneut und jetzt klingt ihr Ruf schärfer, klarer. Alles kommt mir jetzt klarer vor: das Knacken der trockenen Bäume; die übereinandergeschichteten und durchdringenden Gerüche in der Luft; ein entferntes Rumpeln, das anschwillt und dann wieder verebbt.
Lastwagen. Ich höre sie schon länger, aber jetzt nimmt das Wort, die Idee Gestalt an: Wir können nicht weit von einem Highway entfernt sein. Wir müssen von New York aus hergefahren sein, was bedeutet, dass es einen Weg dorthin zurück geben muss.
Ich brauche Raven nicht, genauso wenig wie Tack. Und selbst wenn Raven Recht hatte mit Lena Morgan Jones – sie existiert schließlich wirklich nicht mehr –, brauche ich sie glücklicherweise auch nicht.
Ich gehe zurück in die Lagerhalle, wo Raven am Klapptisch sitzt und Lebensmittel in Stoffbündel packt. Diese werden wir an unsere Rucksäcke schnallen und an Zweige hängen, wenn wir abends das Lager aufschlagen, damit die Tiere nicht drankommen.
Zumindest wird sie das tun.
»Hey.« Sie lächelt mich an, genauso überfreundlich wie schon den ganzen Abend über. »Hast du genug gegessen?«
Ich nicke. »Mehr als sonst in letzter Zeit«, sage ich und sie zuckt leicht zusammen. Den Seitenhieb konnte ich mir nicht verkneifen. Ich lehne mich an den Tisch, wo kleine scharfe Messer auf einem Küchentuch zum Trocknen ausgebreitet sind.
Raven zieht ein Knie an die Brust. »Hör zu, Lena. Tut mir leid, dass wir es dir nicht früher gesagt haben. Ich dachte, es wäre … na ja, ich dachte einfach, so wäre es besser.«
»So war es auch ein unverfälschterer Test«, sage ich und Raven blickt schnell auf. Ich beuge mich vor, lege die Handfläche auf einen Messergriff und spüre, wie er sich in mein Fleisch drückt.
Raven seufzt und blickt wieder weg. »Im Moment hasst du uns bestimmt …«, setzt sie an, aber ich unterbreche sie.
»Ich hasse euch nicht.« Ich richte mich wieder auf, das Messer in der Hand, und stecke es in meine Gesäßtasche.
»Wirklich?« Einen Augenblick sieht Raven viel jünger aus, als sie ist.
»Wirklich«, sage ich und sie lächelt mich an – klein, verkniffen, erleichtert. Es ist ein ehrliches Lächeln. Ich füge hinzu: »Aber ich will auch nicht so sein wie ihr.«
Ihr Lächeln schwindet. Wie ich so dastehe und sie anschaue, kommt mir der Gedanke, dass ich sie vielleicht gerade zum letzten Mal sehe. Ein heftiger Schmerz durchfährt mich, eine Klinge mitten in meiner Brust. Ich bin mir nicht sicher, ob ich Raven je geliebt habe, aber sie hat mir hier, in der Wildnis, das Leben geschenkt. Sie war gleichermaßen Mutter wie Schwester für mich. Aber sie ist noch ein Mensch, den ich beerdigen muss.
»Eines Tages wirst du es verstehen«, sagt sie und ich weiß, dass sie das wirklich glaubt. Sie sieht mich mit großen Augen an und versucht mich dazu zu bringen, zu begreifen: dass Menschen der Sache geopfert werden müssen, dass Schönheit auf dem Rücken der Toten entstehen kann.
Aber es ist nicht ihre Schuld. Nicht wirklich. Raven hat viel verloren, immer und immer wieder, und sie hat sich auch beerdigt. Teile von ihr sind überall verstreut. Ihr Herz ruht neben einem kleinen Häuflein Knochen, das an einem gefrorenen Fluss begraben liegt und mit dem Tauwetter auftauchen wird, ein Skelettschiff, das aus dem Wasser aufsteigt.
»Ich hoffe nicht«, sage ich, so sanft ich kann, und das ist meine Art, mich von ihr zu verabschieden.
Ich stecke das Messer in meinen Rucksack und taste nach dem kleinen Bündel mit Personalausweisen, das ich den Schmarotzern gestohlen habe. Die kann ich sicher gut gebrauchen. Ich nehme eine Windjacke vom Haken neben einer der Pritschen und aus einem kleinen Nylonrucksack, der bereits für morgen gepackt ist, klaue ich Müsliriegel und einige Wasserflaschen. Mein Rucksack ist schwer, selbst nachdem ich Das Buch Psst ausgepackt habe – das werde ich nicht mehr brauchen, nie wieder –, aber ich muss diese Vorräte mitnehmen. Wenn es mir gelingt, Julian zu befreien, werden wir schnell und weit laufen müssen, und ich habe keine Ahnung, wie lange es dauern wird, bis wir auf einen Stützpunkt stoßen.
Ich schleiche zurück durch die Lagerhalle bis zu der Seitentür, die nach draußen auf den Parkplatz und zur Außentoilette führt. Ich
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