Pandemonium
energiegeladen gesehen.
»Wo ist Raven?«, fragt Hunter atemlos.
Ich zucke mit den Achseln. »Weiß ich nicht.«
Miyako macht ein ärgerliches Geräusch und Hunter und sie drehen sich beide um und wollen gerade die Treppe wieder hochlaufen.
»Was ist los?«, frage ich.
»Wir haben eine Nachricht von der anderen Seite bekommen«, sagt Hunter. So nennen die Menschen hier das Gebiet jenseits der Grenze: die andere Seite, wenn sie wohlwollend sind; Zombieland, wenn nicht. »Heute kommen neue Vorräte. Wir brauchen Hilfe, um die Sachen herzubringen.«
»Kannst du uns helfen?«, fragt Miyako und mustert mich abschätzend. Sie hat breite Schultern und ist sehr groß – wenn sie genug zu essen bekäme, wäre sie eine Amazone. So besteht sie nur aus Muskeln und Sehnen.
Ich schüttele den Kopf. »Ich … ich bin nicht kräftig genug.«
Hunter und Miyako wechseln einen Blick.
»Die anderen helfen uns«, sagt Hunter leise. Dann trampeln sie die Treppe wieder hoch und ich bleibe allein zurück.
Später am Nachmittag kommen zehn von ihnen mit robusten Müllsäcken zurück, die rutschig sind vom Wasser. Die Säcke sind an der Grenze in den Cocheco River geworfen worden und bis zu uns getrieben. Selbst Raven gelingt es nicht, für Ordnung zu sorgen oder ihre Aufregung zu zügeln. Alle reißen die Säcke auf, schreien und jubeln, als Vorräte herauspurzeln: Dosen mit Bohnen, Thunfisch, Hühnerfleisch, Suppe; Tüten mit Reis, Mehl, Linsen und noch mehr Bohnen; luftgetrocknetes Fleisch, Säcke mit Nüssen und Getreide; hart gekochte Eier, die in Handtücher gepackt sind; Pflaster, Vaseline, Lippenpflegestifte, Medikamente; sogar neue Unterwäsche, ein Bündel Kleider, Flaschen mit Flüssigseife und Shampoo. Sarah presst das luftgetrocknete Fleisch an ihre Brust und Raven steckt die Nase in eine Seifenschachtel und riecht daran. Es ist wie eine Geburtstagsparty, nur besser: für uns alle; und nur in diesem Augenblick verspüre ich einen Anflug von Glück. Nur in diesem Augenblick habe ich das Gefühl hierherzugehören.
Das Blatt hat sich gewendet. Ein paar Stunden später erlegt Tack einen Hirsch.
An diesem Abend gibt es seit meiner Ankunft die erste anständige Mahlzeit. Wir tischen riesige Platten mit braunem Reis auf, gekrönt von zartem geschmortem Fleisch mit pürierten Tomaten und Kräutern. Es schmeckt so gut, dass ich heulen könnte, und Sarah weint wirklich, sitzt vor ihrem Teller und schluchzt. Miyako legt den Arm um sie und murmelt etwas in ihre Haare. Die Geste erinnert mich an meine Mutter; vor ein paar Tagen habe ich Raven nach ihr gefragt – ohne Ergebnis.
Wie sieht sie aus?, fragte Raven und ich musste gestehen, dass ich es nicht weiß. Früher hatte sie langes, weiches, goldbraunes Haar und ein rundes Gesicht. Aber ich bezweifle, dass sie nach über zehn Jahren im Gefängnis von Portland, den Grüften – wo sie mein ganzes Leben über war, während ich sie für tot hielt –, noch der Frau aus meinen vagen Kindheitserinnerungen ähnelt.
Sie heißt Annabel , sagte ich, aber Raven schüttelte bereits den Kopf.
»Iss, iss«, drängt Miyako Sarah, und das tut sie. Das tun wir alle. Heißhungrig schaufeln wir uns den Reis mit den Händen in den Mund und lecken die Teller ab. Jemand von der anderen Seite hat sogar daran gedacht, uns eine Flasche Whiskey einzupacken, vorsichtig in ein Sweatshirt gewickelt, und alle jubeln, als sie die Runde macht. Ich habe in Portland nur ein- oder zweimal Alkohol getrunken und nie verstanden, was daran so attraktiv sein soll, aber ich nehme einen Schluck aus der Flasche, als sie bei mir vorbeikommt. Es brennt in der Kehle und ich muss husten. Hunter grinst und klopft mir auf den Rücken. Tack reißt mir fast die Flasche aus der Hand und sagt barsch: »Wenn du’s eh nur wieder ausspuckst, brauchst du auch nichts davon zu trinken.«
»Man gewöhnt sich dran«, flüstert mir Hunter zu, beinahe dieselbe Bemerkung, die Sarah vor einer Woche gemacht hat. Ich weiß nicht genau, ob er den Whiskey meint oder Tacks Benehmen. Aber in meinem Magen breitet sich bereits ein warmes Glühen aus. Als die Flasche wieder bei mir vorbeikommt, nehme ich einen etwas größeren Schluck und dann noch einen, und die Wärme breitet sich bis in meinen Kopf aus.
Später: Ich sehe alles in Bruchstücken und Splittern wie eine Reihe zufällig zusammengewürfelter Fotos. Miyako und Lu, die mit untergehakten Armen in der Ecke tanzen, während alle anderen dazu klatschen; Blue, die zusammengerollt
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