Pandemonium
erneut. Er ist noch nicht fertig.
»Es wird ein historischer Tag werden, selbst wenn es mein letzter sein sollte. Glauben Sie nicht, ich wüsste nicht um die Risiken, das tue ich sehr wohl.« Er richtet sich auf und seine Stimme wird lauter, donnernd. Die Augen auf der Leinwand blitzen jetzt auf, glühen voller Licht. »Aber ich habe keine Wahl, genauso wenig wie damals mit neun. Wir müssen die Krankheit entfernen. Wir müssen sie herausschneiden, egal, wie hoch das Risiko ist. Sonst wird sie nur weiterwachsen. Sie wird sich ausbreiten wie das übelste Krebsgeschwür und uns alle bedrohen – jeden Einzelnen von uns, die wir in dieses große und wundervolle Land hineingeboren wurden. Daher sage ich Ihnen: Wir werden – wir müssen – die Krankheit herausschneiden, wo immer sie auftritt. Vielen Dank.«
So; das war’s. Er hat es getan. Er hat uns alle angetippt in unserer schwankenden Erwartungshaltung und jetzt strömen wir auf ihn zu, fließen auf einer Welle aus Geräuschen, aus donnernden Rufen und Applaus. Lena klatscht mit allen anderen, bis ihre Handflächen brennen. Sie klatscht weiter, bis sie ganz taub sind. Die Hälfte des Publikums ist aufgestanden und jubelt. Jemand hebt an zu skandieren: »VDFA! VDFA!«, und kurz darauf stimmen wir alle ein. Es ist markerschütternd, ein ohrenbetäubendes Gebrüll. Irgendwann gesellt sich Thomas wieder zu seinem Sohn auf der Bühne und die beiden stehen feierlich nebeneinander – einer hell, der andere dunkel, wie die zwei Seiten des Mondes – und betrachten uns, während wir weiterklatschen, weiterufen, weiter unsere Zustimmung herausbrüllen. Sie sind der Mond; wir sind die Flut, ihre Flut, und unter ihrer Führung werden wir jegliche Krankheit und Plage aus der Welt waschen.
damals
I
n der Wildnis ist immer irgendjemand krank. Sobald ich kräftig genug bin, um das Krankenzimmer gegen eine Matratze auf dem Boden zu tauschen, muss Squirrel dort einziehen; und nach Squirrel ist Grandpa dran. Nachts hallt der ganze Stützpunkt von Husten, Würgen und fiebrigem Geplapper wider: Krankheitsgeräusche, die durch die Wände dringen und uns allen Angst machen. Das Problem ist der kleine Raum und die Enge. Wir leben übereinander, atmen und niesen einander an, teilen alles. Und nichts und niemand ist je wirklich sauber.
Der Hunger nagt an uns, führt dazu, dass die Nerven blank liegen. Nach meiner ersten Expedition durch den Stützpunkt habe ich mich unter die Erde zurückgezogen wie ein Tier, das in die Sicherheit seines Baus zurückkriecht. Ein Tag vergeht, dann zwei. Die Vorräte müssen doch endlich kommen. Jeden Morgen geht jemand anders nach Nachricht schauen; ich vermute, dass sie irgendeine Möglichkeit gefunden haben, Kontakt zu den Sympathisanten und Widerstandskämpfern auf der anderen Seite aufzunehmen. Ich kann nicht mehr tun als zuhören, beobachten, leise sein.
Nachmittags schlafe ich, und wenn ich nicht schlafen kann, schließe ich die Augen und stelle mir vor, wieder in dem verlassenen Haus in der Brooks Street 37 zu sein und dort neben Alex zu liegen. Ich versuche mich durch den Vorhang hindurchzutasten. Ich stelle mir vor: Wenn es mir irgendwie gelingt, die Tage, die seit der Flucht vergangen sind, zur Seite zu schieben, den Riss in der Zeit zu flicken, kann ich ihn wiederhaben.
Aber immer wenn ich die Augen aufschlage, bin ich noch hier, auf einer Matratze auf dem Boden, und immer noch hungrig.
Nach weiteren vier Tagen bewegen sich alle langsam, als befänden wir uns unter Wasser. Ich schaffe es nicht, die Töpfe hochzuheben. Wenn ich zu schnell aufstehe, wird mir schwindelig. Ich muss noch mehr Zeit im Bett verbringen, und wenn ich nicht im Bett liege, habe ich den Eindruck, dass mich alle böse anstarren. Ich kann den Groll der Invaliden spüren, hart wie eine Mauer. Vielleicht bilde ich es mir auch nur ein, aber das hier ist schließlich meine Schuld.
Auch die Jagdbeute ist armselig. Roach fängt ein paar Kaninchen und alle freuen sich; aber das Fleisch ist hart und voller Knorpel, und als das Essen auf dem Tisch steht, reicht es kaum für jeden.
Eines Tages fege ich gerade den Lagerraum – Raven besteht darauf, dass wir unsere täglichen Aufgaben beibehalten, dass alles sauber gehalten wird –, als ich von oben Rufe höre, Gelächter und Gerenne. Schritte trampeln die Treppe herunter. Hunter kommt schwungvoll in die Küche, gefolgt von einer älteren Frau, Miyako. Ich habe sie – oder sonst jemanden – seit Tagen nicht so
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