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Pandemonium

Pandemonium

Titel: Pandemonium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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heftig, dass ich mir beinahe die Zunge abgebissen hätte; während des zweiten Anfalls stieß ich mit dem Kopf gegen den Kamin. Meine Eltern machten sich Sorgen.«
    Mein Magen verkrampft sich – tief innen drin, unter den Schichten, die ich in den letzten sechs Monaten aufgebaut habe, hinter der falschen Lena mit ihrem Panzer und ihren Personalausweisen und der dreizackigen Narbe am Hals. Dies ist die Welt, in der wir leben, eine Welt aus Sicherheit, Schutz, Glück, Gesundheit und Ordnung, eine Welt ohne Liebe.
    Eine Welt, in der, wenn Kinder sich den Kopf am Kamin aufschlagen und sich beinahe die Zunge abbeißen, die Eltern besorgt sind. Nicht entsetzt, außer sich, verzweifelt. Sondern besorgt, genau wie wenn das Kind in Mathe durchfällt oder sie mit ihrer Steuererklärung spät dran sind.
    »Die Ärzte sagten, in meinem Gehirn wachse ein Tumor, der die Anfälle hervorruft. Eine Operation wäre lebensbedrohlich. Sie zweifelten daran, dass ich sie überleben würde. Aber wenn sie mich nicht operierten – wenn sie zuließen, dass der Tumor weiterwuchs und sich ausbreitete –, hätte ich überhaupt keine Chance.«
    Julian schweigt und ich meine zu sehen, wie er seinem Vater einen kurzen Blick zuwirft. Thomas Fineman hat den Platz eingenommen, den sein Sohn frei gemacht hat, und dort sitzt er nun mit übergeschlagenen Beinen und ausdruckslosem Gesicht.
    »Überhaupt keine Chance«, wiederholt Julian. »Daher musste das kranke Etwas, das Geschwür, entfernt werden. Es musste aus dem gesunden Gewebe herausgeschnitten werden. Ansonsten würde es sich ausbreiten und das gesunde Gewebe ebenfalls krank machen.«
    Julian blättert in seinen Notizen und hält den Blick auf die Seiten vor sich gerichtet, während er vorliest. »Die erste Operation verlief erfolgreich und eine Weile lang hörten die Anfälle auf. Als ich zwölf war, setzten sie wieder ein. Der Krebs war zurück und drückte diesmal auf den unteren Teil des Hirnstamms.«
    Seine Hand umklammert den Rand des Rednerpults und entspannt sich dann wieder. Einen Moment herrscht Schweigen. Irgendjemand im Publikum hustet. Tropfen, Tropfen: Wir alle sind identische Tropfen und Tröpfchen aus Leuten, die irgendwo schweben und darauf warten, angestupst zu werden, darauf warten, dass uns jemand den Weg zeigt, uns einen Pfad hinunterfließen lässt.
    Julian blickt auf. Hinter ihm ist eine Leinwand, auf die sein Bild projiziert wird und die sein Gesicht in fünfzehnfacher Vergrößerung zeigt. Seine Augen sind ein blau-grün-goldener Wirbel wie die Meeresoberfläche an einem sonnigen Tag, und hinter der Glätte, der einstudierten Ruhe, meine ich etwas aufblitzen zu sehen – einen Ausdruck, der schon wieder verschwunden ist, bevor ich ihn benennen kann.
    »Seit der ersten Operation hatte ich noch drei weitere«, sagt er. »Der Tumor ist mir viermal entfernt worden und dreimal ist er wieder gewachsen, wie es Krankheiten tun, wenn sie nicht schnell und vollständig beseitigt werden.« Er macht eine Pause, damit sich die Bedeutung seiner Aussage setzen kann. »Ich bin jetzt seit zwei Jahren krebsfrei.« Donnernder Applaus. Julian hebt eine Hand und der Saal verstummt erneut.
    Julian lächelt und der riesige Julian hinter ihm lächelt ebenfalls: eine pixelige Version, ein verschwommenes Bild. »Die Ärzte haben mir gesagt, dass weitere Operationen lebensgefährlich für mich sind. Es ist bereits zu viel Gewebe entfernt, zu viel herausgeschnitten worden; der Eingriff könnte dazu führen, dass ich die Fähigkeit, meine Emotionen zu kontrollieren, völlig verliere. Ich könnte die Fähigkeit, zu sprechen, zu sehen, mich zu bewegen, verlieren.« Er verlagert sein Gewicht am Rednerpult. »Es ist möglich, dass sich mein Gehirn gänzlich verabschiedet.«
    Ich kann nicht anders: Auch ich halte den Atem an, genau wie alle anderen. Nur Thomas Fineman wirkt entspannt; ich frage mich, wie oft er diese Ansprache wohl schon gehört hat.
    Julian beugt sich noch ein paar Zentimeter weiter ans Mikrofon, und plötzlich scheint es, als würde er jeden Einzelnen von uns direkt ansprechen. Seine Stimme ist leise und drängend, ein Geheimnis, das uns ins Ohr geflüstert wird.
    »Deswegen haben sie sich geweigert, den Eingriff bei mir vorzunehmen. Über ein Jahr lang haben wir jetzt um einen OP-Termin gekämpft und schließlich ist einer vereinbart worden. Am dreiundzwanzigsten März, dem Tag unserer Kundgebung, werde ich geheilt.«
    Wieder brandet Beifall auf, aber Julian unterbricht ihn

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