Pandemonium
nur einer ist besetzt.
Ein Junge.
Von allen Dingen, die ich sehe, ist der Junge am interessantesten. Die anderen Dinge – der Teppich, die Gesichter – sind bei jeder VDFA-Versammlung dieselben. Sogar der dicke Mann. Manchmal ist er dick, manchmal ist er dünn, manchmal ist er stattdessen eine Frau. Aber es ist alles dasselbe – es sind immer alle dieselben.
Die Haare des Jungen sind karamellfarben und gewellt, sie gehen ihm bis zum Kinn. Seine Augen sind dunkelblau, sturmfarben. Er trägt ein rotes Polohemd, kurzärmlig trotz der Kälte, und eine gebügelte dunkle Jeans. Seine Halbschuhe sehen neu aus und am Handgelenk hat er eine glänzende silberne Uhr. Alles an ihm strahlt Reichtum aus. Er hat die Hände im Schoß gefaltet. Alles an ihm strahlt außerdem Korrektheit aus. Sogar, wie er seinem Vater auf der Bühne zusieht, ohne zu blinzeln, ist perfekt und einstudiert. Er verkörpert die Kontrolle und Distanz eines Geheilten.
Aber natürlich ist er nicht geheilt, noch nicht. Dies ist Julian Fineman, Thomas Finemans Sohn, und obwohl er bereits achtzehn ist, ist der Eingriff bei ihm noch nicht durchgeführt worden. Die Wissenschaftler haben sich bisher geweigert, ihn zu behandeln. Nächsten Freitag, am Tag der geplanten großen VDFA-Kundgebung am Times Square, wird sich das ändern. Dann wird er operiert und geheilt.
Möglicherweise. Es ist genauso gut möglich, dass er stirbt oder dass seine Hirnfunktionen so schwer geschädigt werden, dass es aufs Gleiche hinausläuft. Aber er wird trotzdem operiert. Sein Vater besteht darauf. Julian selbst besteht darauf.
Ich habe ihn bisher nie in natura gesehen, obwohl ich sein Gesicht von Plakaten und Broschüren kenne. Julian ist berühmt. Er ist ein Märtyrer, der Held der VDFA und Vorsitzender des Jugendverbands der Organisation.
Er ist größer, als ich dachte. Und sieht besser aus. Die Fotos werden seinem markanten Kinn und seinen breiten Schultern nicht gerecht. Er hat den Körperbau eines Schwimmers.
Auf der Bühne kommt Thomas Fineman mit seiner Rede zum Ende. »Wir leugnen die Gefahren nicht, wenn wir darauf bestehen, dass das Heilmittel früher verabreicht wird«, sagt er, »aber wir betonen, dass die Gefahren zu einem späteren Zeitpunkt viel größer sind. Wir sind bereit, die Konsequenzen zu tragen. Wir sind mutig genug, einige wenige für das Ganze zu opfern.« Er hält inne, während das Auditorium erneut von Applaus angefüllt wird, und legt dankbar den Kopf schräg, bis das Getöse verebbt. Das Licht wird von seiner Uhr reflektiert. Er und sein Sohn tragen dasselbe Modell.
»Und nun möchte ich Ihnen jemanden vorstellen, der all die Werte der VDFA verkörpert. Dieser junge Mann versteht besser als jeder andere, wie wichtig das Heilmittel ist, selbst für diejenigen, die jung sind, selbst für diejenigen, für die der Eingriff eine Gefahr darstellt. Opfer zu bringen bedeutet Sicherheit für alle, und Gesundheit gibt es nur für die Gesellschaft als Ganzes. Liebe Mitglieder der VDFA, bitte begrüßen Sie mit mir meinen Sohn, Julian Fineman.«
Klatsch, klatsch, klatsch , macht Lena zusammen mit dem Rest der Menge. Thomas Fineman verlässt die Bühne, als Julian sie betritt. Sie gehen auf der Treppe aneinander vorbei, nicken sich kurz zu. Sie berühren sich nicht.
Julian hat Notizen mitgebracht, die er vor sich aufs Rednerpult legt. Die Lautsprecher erfüllen den Saal kurz mit dem Geräusch raschelnden Papiers. Julians Blick schweift über die Menge und einen Moment bleibt er an mir hängen. Er öffnet leicht den Mund und mein Herz bleibt stehen: Es ist, als hätte er mich erkannt. Dann wandert sein Blick weiter und mein Herz hämmert in meiner Brust. Ich bin bloß paranoid.
Julian fummelt an dem Mikrofon herum, um es auf die richtige Höhe einzustellen. Er ist sogar noch größer als sein Vater. Lustig, dass sie so verschieden sind: Thomas Fineman groß, dunkel und entschlossen, ein Falke; sein Sohn breitschultrig und blond, mit diesen unglaublichen blauen Augen. Nur der kantige Unterkiefer ist bei beiden gleich.
Er fährt sich mit der Hand durchs Haar und ich frage mich, ob er wohl nervös ist. Aber als er zu sprechen beginnt, klingt seine Stimme voll und fest.
»Ich war neun, als man mir erklärte, dass ich sterben würde«, sagt er einfach und ich spüre erneut diese Erwartung in der Luft hängen, glitzernde Tropfen, als hätten sich alle nur ein winziges Stückchen vorgebeugt. »Damals ging es mit meinen Anfällen los. Der erste war so
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