Pandemonium
barsch. Und damit sind meine ganzen Überlegungen, meine Planung und meine Strategien dahin.
Ich schwanke zwischen Enttäuschung und Wut. »Ich bin schnell«, sage ich. »Ich bin kräftig.«
»Nicht kräftig genug.«
»Ich will helfen«, bohre ich weiter, wobei ich mir des weinerlichen Tonfalls in meiner Stimme mehr als bewusst bin. Ich klinge wie Blue, wenn sie einen ihrer seltenen Wutanfälle hat.
Tack leckt das Zigarettenpapier an und dreht die Zigarette mit ein paar gekonnten Handgriffen unten zu. Dann sieht er mich an und in jenem Augenblick wird mir bewusst, dass Tack das praktisch nie tut. Sein Blick ist klug, prüfend, voller Botschaften, die ich nicht verstehe.
»Später«, sagt er und damit steht er auf und geht an mir vorbei die Treppe hinauf.
jetzt
A
m Morgen der Kundgebung ist es ungewöhnlich warm. Das bisschen Schnee, das noch auf dem Boden und den Dächern lag, läuft in Rinnsalen durch die Gosse und tropft von Straßenlaternen und Zweigen. Es ist strahlend sonnig. Die Pfützen auf der Straße sehen aus wie poliertes Metall, perfekte Spiegel.
Raven und Tack kommen mit zur Demonstration, werden allerdings nicht bei mir bleiben. Meine Aufgabe ist es, mich in der Nähe der Bühne aufzuhalten. Ich soll Julian beobachten, bis er nach Norden ins Columbia Memorial Hospital gebracht wird, wo er geheilt werden soll.
»Egal, was passiert, lass ihn nicht aus den Augen«, hat Raven mir eingebläut. »Egal, was passiert, klar?«
»Warum?«, frage ich, aber ich weiß, dass ich keine Antwort bekommen werde. Obwohl ich offizielles Mitglied der Widerstandsbewegung bin, weiß ich kaum etwas darüber, wie sie funktioniert und was wir eigentlich machen sollen.
»Weil ich es dir sage.«
Ich spreche den letzten Teil lautlos mit, habe Raven aber schon den Rücken zugekehrt, damit sie es nicht sieht.
Untypischerweise gibt es lange Schlangen an den Bushaltestellen. Zwei Aufseher verteilen Nummern an die wartenden Passagiere; Raven, Tack und ich haben Bus Nummer fünf, wann immer der ankommen wird. Die Stadtverwaltung setzt heute viermal so viele Busse und Busfahrer ein wie normal. Fünfundzwanzigtausend Menschen werden zu der Demonstration erwartet; etwa fünftausend Mitglieder der VDFA und Tausende Zuhörer und Schaulustige.
Viele der Gruppen, die gegen die VDFA und deren Idee eines früheren Eingriffs sind, werden ebenfalls da sein. Dazu gehört ein Großteil der Wissenschaftler. Der Eingriff sei für Kinder einfach noch nicht sicher und würde zu enormen gesellschaftlichen Problemen führen: zu einer Nation aus Geisteskranken und Missgebildeten. Die VDFA führt dagegen an, die Wissenschaftler seien übervorsichtig und es gebe bei weitem mehr Vorteile als Risiken.
Und im Notfall vergrößern wir einfach unsere Gefängnisse und stecken die Defekten da rein – weg mit ihnen.
»Weitergehen, weitergehen.« Der Aufseher am Anfang der Schlange schickt uns in den Bus. Wir schlurfen hintereinander vorwärts, zeigen unsere Ausweise und ziehen sie beim Einsteigen durch das Lesegerät. Wie eine Herde Tiere zuckeln wir mit gesenktem Kopf vorwärts.
Raven und Tack reden nicht miteinander, sie haben offenbar mal wieder Streit. Ich kann es spüren, wie elektrische Spannung zwischen ihnen, und es trägt nicht gerade zu meiner Beruhigung bei. Raven findet einen freien Zweiersitz im hinteren Teil des Busses, aber Tack setzt sich überraschenderweise neben mich.
»Was machst du da?«, fragt Raven und beugt sich vor. Sie muss aufpassen, dass sie nicht laut wird. Geheilte streiten sich nicht. Das ist einer der Vorteile des Eingriffs.
»Ich will nur sichergehen, dass mit Lena alles okay ist«, antwortet Tack murmelnd. Er greift nach meiner Hand, ein kurzer Druck. Eine Frau, die auf der anderen Seite des Gangs sitzt, sieht uns neugierig an: »Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«
»Mir geht’s gut«, sage ich, aber meine Stimme klingt erstickt. Heute Morgen war ich überhaupt nicht aufgeregt. Erst Tack und Raven haben mich nervös gemacht. Sie machen sich offensichtlich wegen irgendetwas Sorgen und ich glaube, ich weiß, weshalb: Sie halten die Gerüchte über die Schmarotzer offenbar für wahr. Sie glauben, dass die Schmarotzer die Demonstration auf irgendeine Art stören wollen.
Selbst als wir die Brooklyn Bridge überqueren, beruhigt mich das nicht wie sonst. Die Brücke ist zum ersten Mal überhaupt vom Verkehr verstopft: von Privatautos und Bussen, die Leute zur Demo bringen.
Als wir uns dem Times Square nähern, werde
Weitere Kostenlose Bücher