Pandemonium
ich noch nervöser. Ich habe noch nie in meinem Leben so viele Leute gesehen. Wir müssen an der 34. Straße aussteigen, weil die Busse nicht weiterkommen. Die Straßen wimmeln nur so von Menschen: eine verschwommene Masse aus Gesichtern, ein Fluss aus Farben. Auch Aufseher sind da, freiwillige und offizielle, in makellosen Uniformen. Dann sind dort Mitglieder der bewaffneten Wache, die steif in Reih und Glied stehen und geradeaus starren wie aufgereihte Spielzeugsoldaten, die jeden Moment losmarschieren könnten. Nur, dass diese Soldaten hier echte, riesige Gewehre tragen, deren Läufe in der Sonne glitzern.
Sobald ich inmitten der Menge aus dem Bus steige, werde ich von allen Seiten geschubst und angerempelt, und obwohl Raven und Tack direkt hinter mir sind, werden wir mehrmals getrennt, als Leute sich zwischen uns drängen. Jetzt verstehe ich, warum sie mir vorhin schon ihre Anweisungen gegeben haben. Es ist unmöglich, hier noch miteinander zu reden.
Es ist ohrenbetäubend laut. Die Aufseher pfeifen, um den Fußgängerverkehr zu regeln, und in der Ferne kann ich Getrommel und Sprechgesänge hören. Offiziell beginnt die Demo erst in zwei Stunden, aber schon jetzt meine ich den Rhythmus des VDFA-Gesangs erkennen zu können: Gemeinsam sind wir sicher und es mangle uns an nichts …
Von allen Seiten eingezwängt bewegen wir uns in den endlosen tiefen Klüften zwischen den Gebäuden langsam nordwärts. Auf einigen Balkonen haben sich Zuschauer versammelt. Ich sehe Hunderte und Aberhunderte wehender weißer Fahnen, das Zeichen der VDFA-Anhänger – und nur ein paar wenige smaragdgrüne, das Zeichen der Gegner.
»Lena!« Ich drehe mich um. Tack drängt sich zu mir durch und drückt mir einen Schirm in die Hand. »Es soll später noch regnen.«
Der Himmel erstrahlt in einem makellosen Hellblau und ist nur von ein paar ganz dünnen Wolken wie weiße Haarsträhnen durchzogen. »Ich glaube nicht …«, hebe ich an, aber er unterbricht mich.
»Nimm ihn einfach«, sagt er. »Vertrau mir.«
»Danke.« Ich versuche dankbar zu klingen. Es ist ungewöhnlich für Tack, dass er so aufmerksam ist.
Er zögert und kaut auf seiner Unterlippe. Das hab ich schon an ihm beobachtet, wenn er in der Wohnung über einem Puzzle sitzt. Ich rechne fast damit, dass er noch etwas hinzufügen wird – mir einen Rat geben –, aber im letzten Moment sagt er bloß: »Ich muss sehen, dass ich Rebecca nicht verliere.« Er stolpert kaum wahrnehmbar über Ravens offiziellen Namen.
»Okay.« Sie ist bereits in der Menge verschwunden. Ich stecke den Schirm in meinen Rucksack – woraufhin mich die Leute in meiner Nähe mit bösen Blicken bedenken, weil kaum genug Platz zum Atmen ist, geschweige denn, um den Rucksack vom Rücken zu nehmen –, als mir plötzlich einfällt, dass wir gar nichts für das Ende der Demo verabredet haben. Ich weiß nicht, wo ich Raven und Tack treffen soll.
»He …« Ich blicke auf, aber Tack ist schon weg. Um mich herum sind nur unbekannte Gesichter. Ich drehe mich einmal im Kreis und spüre einen heftigen Stoß in die Rippen. Ein Aufseher hat den Arm ausgestreckt und scheucht mich mit seinem Schlagstock vorwärts.
»Du hältst hier alle auf«, sagt er ausdruckslos. »Geh weiter.«
Meine Brust ist voller Schmetterlinge. Ich zwinge mich zum Durchatmen. Es gibt nichts, weshalb ich mir Sorgen machen müsste. Es ist das Gleiche wie eine VDFA-Versammlung, nur größer.
In der 38. Straße durchqueren wir die Absperrung, vor der wir uns anstellen müssen und von Polizisten mit Metalldetektoren abgetastet und durchsucht werden. Sie überprüfen auch unseren Hals – die Ungeheilten haben einen eigenen abgetrennten Bereich auf der Demo – und scannen unsere Ausweise, obwohl sie glücklicherweise nicht alle durch das SÜS, das Sicherheits-Überprüfungs-System, laufen lassen. Trotzdem dauert es eine Stunde, bis ich durch bin. Hinter der Sicherheitsabsperrung verteilen Freiwillige Desinfektionstücher: kleine weiße Päckchen mit dem Logo der VDFA.
SAUBERKEIT FÜHRT UNS ZU GOTT, SICHERHEIT BEGINNT IM DETAIL, STRENGE IST GLÜCK.
Ich lasse mir von einer silberhaarigen Frau ein Päckchen in die Hand drücken.
Und dann bin ich endlich da. Die Trommeln sind hier wahnsinnig laut und der Sprechgesang schwillt kontinuierlich an wie das Geräusch von Wellen, die sich am Ufer brechen. Mein Herz schlägt mir im Rhythmus dazu bis zum Hals.
Ich habe mal ein Foto vom Times Square gesehen, aus der Zeit vor der Erfindung
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