Pandemonium
Unter meinen Fingern spüre ich Moos und glitschige Kacheln, während ich mich langsam vorwärtsbewege, sorgsam darauf bedacht, beim Gehen kein Geräusch zu machen, sorgsam darauf bedacht, nicht zu laut zu atmen. Alle paar Schritte bleibe ich stehen und lausche, hoffe auf ein weiteres Geräusch, hoffe, dass Julian wieder etwas sagt. Aber das Einzige, was ich höre, ist ein stetiges pling, pling, pling . Irgendwo muss ein Rohr undicht sein.
Dann sehe ich es.
Der Mann hängt an einem Gitter in der Decke, einen Gürtel eng um seinen aufgequollenen Hals geschlungen. Über ihm kondensiert Wasser auf einem Metallrohr und tropft auf den Tunnelboden. Pling, pling, pling.
Es ist so dunkel, dass ich das Gesicht des Mannes nicht genau sehen kann – das Gitter lässt nur wenig graues Licht von oben durch –, aber trotzdem erkenne ich, dass es einer von Julians Leibwächtern ist. Zu seinen Füßen liegt zusammengekrümmt ein weiterer Leibwächter. Aus seinem Rücken ragt eine Klinge mit einem langen Griff.
Ich stolpere rückwärts, wobei ich alle Vorsicht außer Acht lasse. Dann höre ich wieder Julians Stimme, leiser: »Bitte …«
Ich habe Angst. Ich weiß nicht, aus welcher Richtung die Stimme kommt, kann nichts anderes denken als: Raus hier, raus, raus, raus. Ich würde den Schmarotzern lieber draußen im Freien entgegentreten als hier im Dunkeln, gefangen wie eine Ratte. Ich werde nicht unter der Erde sterben.
Ich renne blindlings los, die Arme vor mir ausgestreckt, stoße erst an eine Wand, bevor ich mich in die Mitte des Tunnels vortaste. Die Panik lähmt mich beinahe.
Pling, pling, pling.
Bitte. Bitte, ich muss hier raus. Ich bin noch nie so schnell gerannt. Gleich explodiert mein Herz; ich kann nicht atmen.
Ganz plötzlich tauchen zwei schwarze Schatten links und rechts von mir auf, sie sehen aus wie riesige schwarze Vögel, die ihre Flügel ausstrecken, um mich darin einzuwickeln.
Einer von ihnen packt mein Handgelenk. Der Schlüsselbund fällt mir aus der Hand.
»Nicht so schnell«, sagt der andere. Dann sengender Schmerz, ein weißes Leuchten.
Ich versinke in Dunkelheit.
damals
M
iyako, die eigentlich mit den Kundschaftern hätte gehen sollen, ist stattdessen im Krankenzimmer gelandet.
»Morgen ist sie wieder auf den Beinen«, sagt Raven. »Du wirst schon sehen. Sie ist robust wie ein Felsen.«
Aber am nächsten Tag ist ihr Husten so schlimm, dass wir ihn durch die Wände hindurch hören. Ihre Atmung klingt schwerfällig und schwach. Sie schwitzt ihre Laken durch, obwohl sie jammert, dass ihr kalt sei, eiskalt, so furchtbar kalt.
Sie fängt an, Blut zu husten. Wenn ich Schicht habe und mich um sie kümmern muss, kann ich ihre blutverkrusteten Mundwinkel sehen. Ich tupfe sie mit einem Waschlappen ab, aber sie ist immer noch stark genug, um mich wegzuschubsen. Im Fieber sieht sie Umrisse und Schatten; murmelnd schlägt sie nach ihnen.
Sie kann nicht mehr aufstehen, noch nicht mal, als Raven und ich gemeinsam versuchen, sie aufzurichten. Sie schreit vor Schmerzen und schließlich geben wir es auf. Stattdessen wechseln wir die Laken, wenn Miyako sie vollgepisst hat. Ich finde, wir sollten sie verbrennen, aber Raven besteht darauf, dass das nicht geht; in dieser Nacht sehe ich, wie sie sie erbittert in der Wanne schrubbt, während Dampf aus dem kochenden Wasser aufsteigt. Ihre Unterarme sind leuchtend rot wie rohes Fleisch.
Und dann wache ich eines Nachts auf und es herrscht vollkommenes Schweigen, ein kühles, dunkles Becken der Stille. Einen Augenblick, während ich noch aus dem Nebel meiner Träume auftauche, denke ich, dass es Miyako besser geht.
Morgen wird sie wieder in der Küche hocken und sich um das Feuer kümmern. Morgen erledigen wir wieder gemeinsam unsere Aufgaben und ich werde ihr dabei zusehen, wie sie mit ihren langen, schlanken Fingern Fallen knüpft. Wenn sie mich beim Zusehen ertappt, wird sie lächeln.
Aber es ist zu still. Ich stehe auf, der Knoten aus Angst in meiner Brust wird immer enger. Der Fußboden ist eiskalt.
Raven sitzt am Fußende von Miyakos Bett und starrt ins Leere. Ihre Haare sind offen und die flackernden Schatten, die die Kerze neben ihr wirft, lassen ihre Augen wie zwei tiefe Höhlen erscheinen. Miyakos Augen sind geschlossen und ich erkenne sofort, dass sie tot ist.
Der Drang zu lachen – hysterisch und unangemessen – steigt in meiner Kehle auf. Um ihn zu unterdrücken, frage ich: »Ist sie …?«
»Ja«, sagt Raven kurz
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