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Pandemonium

Pandemonium

Titel: Pandemonium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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angebunden.
    »Wann?«
    »Ich weiß nicht genau. Ich bin eingeschlafen.« Sie streicht sich mit der Hand über die Augen. »Als ich wieder aufgewacht bin, hatte sie aufgehört zu atmen.«
    Mein Körper wird einmal kurz ganz heiß und dann ganz kalt. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, deshalb stehe ich einfach eine Weile da und versuche, Miyakos Körper nicht anzusehen: eine Statue, ein Schatten, ihr Gesicht von der Krankheit ausgezehrt, bis auf die Knochen zusammengefallen. Ich kann an nichts anderes denken als an ihre Hände, die noch vor ein paar Tagen so gekonnt auf den Küchentisch trommelten, als sie einen sanften Rhythmus schlug, um Sarahs Gesang zu begleiten. Sie flogen dahin wie Kolibriflügel – voller Leben.
    Ich habe das Gefühl, als wäre mir etwas im Hals stecken geblieben. »Es … es tut mir leid.«
    Raven sagt eine ganze Weile lang gar nichts. Dann: »Ich hätte sie nicht dazu zwingen sollen, Wasser zu schleppen. Sie hat gesagt, es gehe ihr nicht gut. Ich hätte sie ausruhen lassen sollen.«
    »Du darfst dir nicht die Schuld geben«, sage ich schnell.
    »Warum nicht?« Jetzt blickt Raven zu mir auf. In diesem Moment sieht sie sehr jung aus – aufsässig, störrisch, so wie meine Großcousine Jenny immer aussah, wenn Tante Carol ihr sagte, es sei Zeit für die Hausaufgaben. Ich muss mir ins Gedächtnis rufen, dass Raven wirklich jung ist: einundzwanzig, nur ein paar Jahre älter als ich. Die Wildnis lässt einen schneller altern.
    Ich frage mich, wie lange ich es wohl hier draußen aushalten werde.
    »Weil es nicht deine Schuld ist.« Die Tatsache, dass ich ihre Augen nicht erkennen kann, macht mich nervös. »Du darfst … du darfst kein schlechtes Gewissen haben.«
    Da steht Raven auf und nimmt die Kerze in die Hand.
    »Wir sind jetzt auf der anderen Seite des Zauns, Lena«, sagt sie müde, als sie an mir vorbeigeht. »Kapierst du das nicht? Du hast mir nicht zu sagen, wie ich mich fühlen soll.«
    Am nächsten Tag schneit es. Beim Frühstück weint Sarah lautlos, während sie Haferbrei löffelt. Sie stand Miyako nahe.
    Die Kundschafter haben den Stützpunkt vor fünf Tagen verlassen – Tack, Hunter, Roach, Buck, Lu und Squirrel – und haben die Schaufel mitgenommen, um die Vorräte zu vergraben. Wir sammeln Metall- und Holzstücke – was immer wir stattdessen zum Graben benutzen können.
    Es schneit zum Glück nur leicht; am Vormittag liegt gerade mal ein guter Zentimeter Schnee. Aber es ist sehr kalt und der Boden ist hart gefroren. Nach einer halben Stunde Graben und Hacken haben wir erst eine winzige Kerbe in den Boden geschlagen und Raven, Bram und ich sind völlig verschwitzt. Sarah, Blue und ein paar andere haben sich zitternd in der Nähe zusammengekauert.
    »Das funktioniert nicht«, stößt Raven keuchend hervor. Sie wirft das verbogene Stück Metall, das sie als Schaufel benutzt hat, auf den Boden und kickt es weg. Dann dreht sie sich um und stapft zum Bau zurück. »Wir müssen sie verbrennen.«
    »Sie verbrennen?« Die Worte sind heraus, bevor ich sie zurückhalten kann. »Wir können sie nicht verbrennen. Das ist …«
    Raven wirbelt mit funkelnden Augen herum. »Was? Und was bitte willst du dann machen? Hm? Willst du sie im Krankenzimmer liegen lassen?«
    Normalerweise gebe ich klein bei, wenn Raven laut wird, aber diesmal beharre ich auf meinem Standpunkt. »Sie hat ein anständiges Begräbnis verdient«, sage ich und wünschte, meine Stimme würde nicht zittern.
    Raven kommt mit zwei großen Schritten zu mir zurück.
    »Das ist Energieverschwendung«, zischt sie und ich merke, wie wütend und verzweifelt sie ist. Mir fällt ein, was sie zu Tack gesagt hat: Alle bleiben am Leben. »Und wir haben keine Energie übrig.«
    Sie kehrt mir wieder den Rücken zu und verkündet laut, so dass alle es hören können: »Wir müssen sie verbrennen.«
    Wir wickeln Miyakos Körper in die Laken, die Raven sauber geschrubbt hat. Vielleicht wusste sie die ganze Zeit über, dass sie für diesen Zweck gebraucht würden. Ich habe das Gefühl, dass mir gleich übel wird.
    »Lena«, fährt Raven mich an. »Nimm die Füße.«
    Ich tue, was sie sagt. Miyakos Körper ist schwerer, als ich es für möglich gehalten hätte. Sie ist schwer wie Eisen geworden. Ich bin wütend auf Raven, schäume vor Wut. Darauf sind wir hier reduziert. Das sind wir hier in der Wildnis geworden: Wir hungern, wir sterben, wir wickeln unsere Freunde in alte, zerlumpte Laken, wir verbrennen sie unter freiem Himmel. Ich

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