Pandemonium
ob Botschaften gekommen sind. Es ist jetzt schwerer, auf die Bäume zu klettern, weil sie von Eis umschlossen sind. Wenn ich anschließend im Unterschlupf sitze, pochen meine Finger schmerzhaft, während das Gefühl wiederkommt. Auch in den letzten Wochen haben wir regelmäßig Vorräte erhalten, obwohl sie manchmal flussaufwärts im seichteren Gewässer, das leichter zufriert, stecken geblieben sind. Dann müssen wir sie mit Besenstielen freihacken. Als Nächste kehren Roach und Buck erschöpft, aber erfolgreich zum Stützpunkt zurück. Endlich hört es auf zu schneien. Jetzt warten wir nur noch auf Hunter und Tack.
Dann sind die Nester eines Tages gelb. Und am nächsten Tag wieder: gelb.
Am dritten gelben Tag nimmt mich Raven beiseite.
»Ich mache mir Sorgen«, sagt sie. »Dadrinnen muss es irgendein Problem geben.«
»Vielleicht patrouillieren sie wieder«, sage ich. »Vielleicht haben sie den Zaun unter Strom gesetzt.«
Sie beißt sich auf die Lippe und schüttelt den Kopf. »Was immer es ist, es muss was Größeres sein. Alle wissen, dass es Zeit für uns ist, loszugehen. Wir brauchen alle Vorräte, die wir kriegen können.«
»Ich bin sicher, es ist nur vorübergehend«, sage ich. »Ganz bestimmt kommt morgen wieder eine Ladung.«
Raven schüttelt erneut den Kopf. »Wir können nicht mehr viel länger warten«, sagt sie und ihre Stimme klingt erstickt. Ich weiß, dass sie nicht nur an die Vorräte denkt. Sie denkt auch an die fehlenden Kundschafter.
Am nächsten Tag ist der Himmel blassblau, die Sonne steht hoch und ist überraschend warm. Sie bricht zwischen den Bäumen hindurch und verwandelt das Eis in Rinnsale aus Schmelzwasser. Der Schnee hat Stille gebracht, aber jetzt ist der Wald wieder lebendig, voll mit Tröpfeln, Zwitschern und Knacken. Es ist, als wäre der Wildnis ein Maulkorb abgenommen worden.
Wir sind alle guter Laune – alle außer Raven, die wie immer den Himmel mustert und nur murmelt: »Das hält nicht.«
Als ich auf dem Weg zu den Nestern durch den Schnee stapfe, ist mir so warm, dass ich meine Jacke ausziehe und sie mir um die Hüfte binde. Heute werden die Nester blau sein, das spüre ich. Sie werden blau sein und wir werden Vorräte bekommen und die Kundschafter kehren zurück und wir ziehen alle zusammen nach Süden. Das Sonnenlicht blendet, wird von den glitzernden Zweigen reflektiert und erfüllt mein Gesichtsfeld mit farbigen Punkten, Blitzen in Rot und Grün.
Als ich bei den Nestern ankomme, knote ich meine Jacke auf und hänge sie über einen der niedrigen Äste. Ich bin inzwischen gut im Klettern – mein Körper findet den Weg hinauf problemlos, und ich verspüre eine Freude in der Brust wie lange nicht. Aus der Ferne höre ich ein vages Brummen, ein leises Vibrieren, das mich an das Zirpen von Grillen im Sommer erinnert.
Vor uns liegt eine riesige Welt, ein grenzenloser Raum jenseits aller Zäune und Regeln. Wir werden ungehindert durchkommen. Alles wird gut.
Beinahe bin ich bei den Nestern angekommen. Ich verlagere mein Gewicht, suche eine bessere Stelle für die Füße und ziehe mich hinauf auf den letzten Ast.
Genau in diesem Augenblick saust ein Schatten an mir vorbei – so plötzlich und unvermittelt, dass ich beinahe abrutsche. Einen Moment habe ich Angst zu fallen, doch es gelingt mir, mich abzufangen. Aber mein Herz hämmert.
Und dann sehe ich, dass es kein Schatten war, was mich erschreckt hat.
Es war ein Vogel. Ein Vogel, der mit etwas Klebrigem kämpft: ein mit Farbe verschmierter Vogel, der in seinem Nest herumflattert und überall Farbe verspritzt.
Rot. Rot. Rot.
Dutzende braune Federn, die dick mit blutroter Farbe überzogen sind und zwischen den Zweigen umhersegeln.
Rot bedeutet: Rennt um euer Leben.
Ich weiß nicht, wie ich von dem Baum herunterkomme. Ich schlittere und rutsche ab, die Panik hat alle Anmut und Leichtigkeit aus meinen Gliedmaßen vertrieben. Rot bedeutet: Rennt um euer Leben. Als ich noch einen guten Meter vom Boden entfernt bin, lasse ich mich fallen und lande kugelnd im Schnee. Kälte dringt durch meine Jeans und meinen Pullover. Ich greife nach meiner Jacke und renne – genau wie Hunter es mir gesagt hat – durch die funkelnde, schmelzende Welt aus Eis, während sich Schwärze am Rande meines Gesichtsfelds ausbreitet. Jeder Schritt ist eine Qual und ich fühle mich wie in einem dieser Albträume, wo man versucht zu fliehen und sich nicht rühren kann.
Jetzt ist das Summen, das ich vorhin gehört habe, lauter
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