Pandemonium
Leben und es ist alles gut und alles wird in Ordnung kommen. Julian streicht mir weiterhin mit der Hand über die Haare – wickelt sie um seine Finger, rollt sie auf und lässt sie über sein Handgelenk zurück auf das Kissen gleiten –, und als ich diesmal die Augen schließe und den leuchtend silbernen Fluss sehe, gehe ich direkt hinein und lasse mich von ihm hinwegtragen.
Am nächsten Morgen wache ich auf und sehe Blau: Julians Augen, die mich anstarren. Er wendet sich schnell ab, aber nicht schnell genug. Er hat mich im Schlaf beobachtet. Ich bin gleichzeitig verlegen, wütend und geschmeichelt. Ich frage mich, ob ich im Schlaf gesprochen habe. Früher habe ich manchmal Alex’ Namen gerufen und ich bin mir ziemlich sicher, dass er letzte Nacht in meinen Träumen aufgetaucht ist. Ich kann mich an nichts erinnern, aber ich bin mit diesem Alex-Gefühl aufgewacht, als wäre da ein Loch mitten in meiner Brust.
»Wie lange bist du schon wach?«, frage ich. Bei Licht fühlt sich alles wieder angespannt und unangenehm an. Ich glaube beinahe, das von letzter Nacht war ein Traum. Julian hat die Finger auf meine Haare gelegt. Julian hat mich berührt. Ich habe zugelassen, dass er mich berührt.
Es hat mir gefallen.
»Schon eine Weile«, sagt er. »Ich konnte nicht schlafen.«
»Albträume?«, frage ich. Die Luft im Raum ist stickig. Jedes Wort kostet große Mühe.
»Nein«, sagt er. Ich rechne damit, dass er noch etwas sagt, aber zwischen uns dehnt sich langes Schweigen aus.
Ich setze mich auf. Hier im Raum ist es heiß und es stinkt. Mir ist übel. Ich suche nach etwas, das ich sagen könnte, etwas, das die Spannung aus dem Raum vertreibt.
Und dann fragt Julian: »Glaubst du, sie werden uns umbringen?«, und die dicke Luft verschwindet sofort. Heute stehen wir auf derselben Seite.
»Nein«, antworte ich überzeugter, als ich mich fühle. Je mehr Tage vergangen sind, desto unsicherer bin ich geworden. Wenn sie – die Schmarotzer – vorhätten, ein Lösegeld für Julian zu erpressen, hätten sie das bestimmt inzwischen getan. Ich muss an Thomas Fineman und das glänzende Metall seiner Manschettenknöpfe und sein hartes, strahlendes Lächeln denken. Ich muss daran denken, wie er seinen neunjährigen Sohn bewusstlos geprügelt hat.
Vielleicht will er nicht zahlen. Der Gedanke ist da, ein bohrender Zweifel, und ich versuche ihn zu ignorieren.
Beim Gedanken an Thomas Fineman fällt mir etwas ein: »Wie alt ist dein Bruder?«, frage ich.
»Was?« Julian setzt sich auf, so dass er mir den Rücken zukehrt. Er muss mich gehört haben, aber ich wiederhole die Frage trotzdem. Ich sehe, wie er sich verkrampft: ein winziges Zucken, kaum wahrnehmbar.
»Er ist tot«, sagt er abrupt.
»Wie … wie ist er gestorben?«, frage ich sanft.
Julian spuckt das Wort erneut beinahe aus. »Unfall.«
Obwohl ich merke, dass es Julian unangenehm ist, darüber zu reden, will ich das Thema einfach nicht fallenlassen. »Was denn für ein Unfall?«
»Das ist lange her«, sagt er kurz angebunden, dann dreht er sich mit einem Ruck zu mir herum und fügt hinzu: »Was interessiert dich das überhaupt? Warum bist du so neugierig? Ich weiß nicht das Geringste über dich. Und ich bohre nicht nach. Ich bedränge dich nicht andauernd.«
Ich bin so erschrocken von seinem Ausbruch, dass ich beinahe zurückgifte. Aber ich habe schon zu viel rausgelassen; daher flüchte ich mich in Lena Jones’ ruhiges Wesen: die Ruhe der wandelnden Toten; die Ruhe der Geheilten.
Ich sage sanft: »Ich war nur neugierig. Du musst mir nichts erzählen.«
Einen Moment meine ich Panik auf Julians Gesicht wahrzunehmen; sie blitzt dort auf wie eine Warnung. Dann ist sie weg, ersetzt durch eine Härte, die ich schon an seinem Vater bemerkt habe. Er nickt einmal schroff, dann steht er auf und beginnt hin und her zu gehen. Seine Anspannung bereitet mir ein perverses Vergnügen. Er war erst so ruhig. Es tut gut zu sehen, wie er ein bisschen außer sich gerät: Bis hier unten reicht der Schutz der VDFA nicht.
Und schon stehen wir wieder auf verschiedenen Seiten. Das morgendliche steinerne Schweigen hat etwas Tröstliches an sich. So sollten die Dinge sein. Es ist richtig.
Ich hätte nie zulassen dürfen, dass er mich berührt. Ich hätte ihn noch nicht mal in meine Nähe lassen dürfen. In meinem Kopf wiederhole ich immer wieder: Es tut mir leid. Jetzt passe ich auf. Keine Ausrutscher mehr. Ich bin mir nicht sicher, ob diese Entschuldigung an Raven oder an Alex
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