Pandemonium
einen scharfen Uringeruch im Raum verströmt. Wir haben uns mit seiner Benutzung abgewechselt. Julian nahm mir das Versprechen ab, dass ich ihm den Rücken zudrehen, mir die Ohren zuhalten und außerdem noch summen würde. Als ich dran war, forderte ich ihn nur auf, sich umzudrehen – aber er hielt sich trotzdem auch die Ohren zu und sang. Er hat eine fürchterliche Stimme und sang völlig falsch, aber laut und fröhlich, als wüsste er das nicht oder als machte es ihm nichts aus – ein Lied, das ich schon ewig nicht mehr gehört hatte, eins, das zu einem Kinderspiel gehört.
Ein neues Tablett, gefolgt von einem sauberen Eimer, wird hereingeschoben. Dann knallt die Klappe wieder zu, die Schritte entfernen sich und Julian steht auf.
»Hast du was gesehen?«, frage ich, obwohl ich bereits weiß, dass die Antwort Nein lauten wird. Ich bin heiser und fühle mich leicht unbehaglich. Ich habe ihm gestern Nacht zu viel erzählt. Das haben wir beide.
Julian fällt es wieder schwer, mich anzusehen. »Nichts«, sagt er.
Wir essen schweigend – diesmal eine kleine Schale mit Nüssen und noch ein großes Stück Brot. Im hellen Licht der Glühbirne fühlt es sich komisch an, so nah nebeneinander auf dem Boden zu sitzen, deshalb esse ich, während ich im Raum hin und her gehe. Das Schweigen zwischen uns ist geradezu greifbar. Es herrscht eine Spannung im Raum, die vorher nicht hier war. Es ist unlogisch, aber ich mache Julian dafür verantwortlich. Er hat mich letzte Nacht zum Reden gebracht und das hätte er nicht tun sollen. Gleichzeitig war ich es, die nach seiner Hand gegriffen hat. Das scheint mir jetzt unvorstellbar.
»Willst du das den ganzen Tag über machen?«, fragt Julian. Seine Stimme klingt gereizt und ich merke, dass er die Spannung auch spürt.
»Wenn es dir nicht passt, musst du ja nicht zugucken«, fahre ich ihn an.
Wieder Schweigen. Dann sagt er: »Mein Vater wird mich hier rausholen. Er zahlt bestimmt bald.«
Erneut sprießt in mir der Hass auf ihn. Er muss wissen, dass es niemanden auf der Welt gibt, der mich auslösen wird. Er muss wissen, dass ich, wenn unseren Entführern – wer immer sie sein mögen – das bewusst wird, entweder umgebracht werde oder sie mich hier vermodern lassen.
Aber ich sage nichts. Ich klettere die steilen, glatten Wände des Turms hinauf. Ich schließe mich fest hinter seinen Flügelfenstern ein; ich schichte Steine zwischen uns auf.
Die Stunden hier sind rund und flach, graue Scheiben, eine Lage über der anderen. Sie riechen säuerlich und moschusartig wie der Atem eines Verhungernden. Sie bewegen sich langsam, mühselig, fast unmerklich. Sie drücken immer nach unten, endlos nach unten.
Und dann geht ohne Vorwarnung das Licht aus und taucht uns erneut in Dunkelheit. Meine Erleichterung ist so groß, dass sie bereits an Freude grenzt: Ein weiterer Tag ist überstanden. In der Dunkelheit beginnt sich ein Teil meines Unbehagens aufzulösen. Bei Tag sind Julian und ich nervös, verlegen erstarrt und uneins. Aber in der Dunkelheit bin ich froh, als ich höre, wie er sich auf seiner Pritsche zurechtlegt, und ich weiß, dass wir noch nicht mal einen Meter voneinander getrennt sind. Seine Anwesenheit spendet mir Trost.
Selbst das Schweigen fühlt sich jetzt anders an – tröstlich und verzeihend.
Nach einer Weile fragt Julian: »Schläfst du?«
»Noch nicht.«
Ich höre, wie er sich zu mir umdreht. »Willst du noch eine Geschichte hören?«, fragt er.
Ich nicke, obwohl er mich nicht sehen kann, und er nimmt mein Schweigen als Zustimmung.
»Es war einmal ein total schlimmer Wirbelsturm.« Julian hält einen Moment inne. »Das ist übrigens eine erfundene Geschichte.«
»Schon kapiert«, sage ich und schließe die Augen. Ich stelle mir vor, wieder in der Wildnis zu sein, wo meine Augen vom Rauch des Lagerfeuers brennen und ich Ravens Stimme durch den Dunst höre.
»Und es war einmal ein Mädchen, Dorothy. Während sie zu Hause schlief, wurde das ganze Haus von einem Sturm mitgerissen und wirbelte durch die Lüfte. Und als sie aufwachte, war sie in einem fremden Land, in dem es lauter kleine Leute gab, und ihr Haus war auf einer bösen Hexe gelandet. Hatte sie platt gedrückt. Und daher waren all die kleinen Leute – die Munchkins – ihr sehr dankbar und schenkten Dorothy ein paar Zauberschuhe.« Er schweigt.
»Und?«, frage ich. »Wie geht’s weiter?«
»Ich weiß es nicht«, sagt er.
»Was soll das heißen, du weißt es nicht?«, frage ich.
Ein
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